Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Verlorenes Album von Neil Young: Nicht mehr lost, aber ist es great?
> „Chrome Dreams“, ein „verlorenes“ Album von Neil Young, wurde nun
> veröffentlicht. Musikliebhaber finden darauf schöne Versionen mancher
> Hits.
Bild: Neil Young 1971, als sein Album „Chrome Dreams“ noch in der Zukunft l…
Es gibt verschiedene Legenden, die erklären, warum das Album „Chrome
Dreams“ damals, Anfang 1977, als es fertiggestellt war und sich sogar schon
bis zur Testpressung verpuppt hatte, dann doch nicht erschien. Eine geht
so: [1][Neil Young] lud eines Abends seine Musikerkollegin Carole King ein,
um es ihr vorzuspielen. King hörte zu und sagte schließlich, aber Neil, das
ist doch kein Album, das bist doch größtenteils nur du, wie du Lieder zur
Gitarre singst.
Eigentlich war das ja gerade sein Geschäft, Lieder zur Gitarre zu singen,
das hätte Carole King wissen können. Vielleicht gab es dem kanadischen
Rockstar dennoch zu denken. King veröffentlichte zur selben Zeit
aufwändige, Yacht-Rock-nahe Produktionen mit schneidigen Bläsersätzen und
Funky Drumming, die sie sich von dem mächtigen Lou Adler maßschneidern
ließ, der wiederum die coolsten (und teuersten) LA-Session-Musiker*innen
fürs Sweetening anheuerte.
Dennoch: Ein [2][Yacht-Rock-Album] von Neil Young? Vielleicht das Einzige,
was er nie ausprobiert hat (schade!). Er blieb bei seiner Akustikgitarre
und seiner bevorzugten Begleitband Crazy Horse, von der eine andere
Kollegin, Joni Mitchell, nach einer gemeinsamen Session meinte, sie sei
doch eigentlich nur eine rüpelhafte Barband und zu schlecht, um auf
Tonträger der Ewigkeit überantwortet zu werden. Das tat Young dennoch und
zwar noch oft und bis heute.
Beide, Joni Mitchell und Neil Young, sind in letzter Zeit groß im
Archiv-Business unterwegs. Mitchell seit 2020 mit ihrer „Archives“-Serie,
in der sie chronologisch Live-Aufnahmen, Demos und Outtakes der
Öffentlichkeit zugänglich macht – Folge 3, die sich ihrer spannendsten
Phase in den mittleren Siebzigern widmet, soll im Oktober kommen.
## So viele Heilige Grale
Parallel dazu werden die Originalalben in größeren Boxen remastered und
nach Schaffensperioden (beziehungsweise Label-Zugehörigkeit) geordnet
zusammengefasst. Youngs Archiv ist ungleich größer und er ist mit dessen
Auswertung im Grunde seit 1972 befasst, als er auf dem Doppelalbum „Journey
Through the Past“ zum ersten Mal ältere Aufnahmen von sich veröffentlichte.
Auch er bietet seine Originalalben mittlerweile chronologisch in der
„Official Release Series“ remastered und zusammengefasst in Box-Sets an.
Mit der im Juli veröffentlichten Folge 22–25 ist er mittlerweile in den
frühen 1990ern angekommen. In der „Neil Young Archives Performance Series“
erschienen seit 2006 parallel dazu 17 Alben mit bislang unveröffentlichten
Live-Aufnahmen in unterschiedlichen Besetzungen, aufgenommen zwischen 1968
und 2019.
Vor allem führt Neil Young aber seit einigen Jahren das beliebte
Plattensammler*innen-Topos des „great lost albums“ dadurch ad absurdum,
dass er ständig neue Vertreter dieser Spezies aus dem Ärmel seines
Holzfällerhemds schüttelt. Die „Basement Tapes“ von Bob Dylan waren lange
ein solches Album, noch länger „Smile“ von den Beach Boys oder „VU“ von
Velvet Underground. Mittlerweile sind alle diese Heiligen Grale schon lange
in diversen Spezial-Editionen dem Markt zugeführt worden.
## Neil Young at his neilyoungest
Young hat diesem Tonträgergenre eine eigene Subserie seiner „Neil Young
Archives“ gewidmet, die „Neil Young Archives Special Series“. Seit 2017
erblickten bislang vier große verlorene Young-Werke das Licht der Welt,
„Chrome Dreams“ ist schon das fünfte. Seit 1992, da es zum ersten Mal als
unlizenzierte CD in Italien veröffentlicht wurde, erregt das Album die
Begehrlichkeit der Young-Fangemeinde und anderer Sammler*innen und
konnte es in den Folgejahren zum vielleicht begehrtesten „great lost album“
Youngs bringen.
Nun ist es nicht mehr „lost“. Aber ist es auch „great“? Dass bei der
Beantwortung dieser Frage auch hundertprozentige Young-Fans nicht gleich in
hysterisches Kopfnicken ausbrechen, hat wahrscheinlich vor allem damit zu
tun, dass die Musik selbst für Young gewogene Hörer*innen, die sich nicht
bereits eine Bootleg-Version des Albums besorgt haben, so frei von
Überraschungen ist.
Dies ist Neil Young at his neilyoungest, mal akustisch und melancholisch,
mal zornig mit Crazy Horse, mal derbe countryesk, mal urban. So weit nichts
Neues. Unbekannte Songs gibt es auch nicht – alle sind irgendwann später
auf unterschiedlichen Alben bereits veröffentlicht worden, teilweise
allerdings in völlig anderen Versionen.
## Es ist eine Art Best-of
Youngolog*innen freuen sich vor allem, von Young-Klassikern wie
„Powderfinger“, „Like a Hurricane“, „Homegrown“ und „Sedan Delive…
also die Originalversionen kennenzulernen, um daraus
Entwicklungsgeschichten abzuleiten und Vergleiche anstellen zu können. Aber
gibt es auch einen Nutzen für Uneingeweihte?
Den gibt es tatsächlich: „Chrome Dreams“ ist das ideale Album für alle
Musikbegeisterten, die zwischen 0 und 10 Young-Alben besitzen – also nur
einen Bruchteil seines Œuvres. Sie erhalten prototypischen Neil Young und
einige seiner berühmtesten Songs in sehr gelungenen Versionen, eine Art
Best-of, all killer, no filler, des Seventies-Neil.
Die Diversität der Platte sorgt dafür, dass auch Hörer*innen mit
begrenzter Toleranz für nicht endenwollende Crazy-Horse-E-Gitarrenduelle
beziehungsweise andererseits für traurig-wehmütige Mundharmonika-Balladen
bei der Stange bleiben.
Vielleicht ist aber diese Diversität mehr noch als das Carole-King-Verdikt
der Grund, weshalb es Young in letzter Minute vorzog, „Chrome Dreams“ ins
Archiv zu verschieben und stattdessen wenige Monate später das unter
Young-Fans allgemein nicht besonders hoch gehandelte, dabei eigentlich
ziemlich schlüssige rustikale Country-Rock-Album „American Stars ’n’ Bar…
auf den Markt zu bringen.
## Kein Album, ein Container
Denn „Chrome Dreams“ ist im eigentlichen Sinne kein Album, sondern ein
Container für liegen gebliebene Einzelaufnahmen aus verschiedenen Sessions
der Jahre 1974 bis 1976. Bei aller Qualität der zusammengetragenen Stücke
gibt es weder musikalisch noch thematisch einen durchgehenden Erzählstrang.
Den hat Young stattdessen bei „American Stars …“ mit seinem raubeinigen
Gegenentwurf zum damals so populären sentimental-eskapistischen
Westcoast-Country-Rock à la Eagles geliefert – unter Verwendung von vier
„Chrome Dreams“-Aufnahmen.
Aus der Entfernung von fast fünf Jahrzehnten lässt sich heute aber auch für
das „Chrome Dreams“-Original eine Erzählung ausmachen: Sie handelt von Neil
Young, dem ewig suchenden, herumprobierenden, unzufriedenen
Singer-Songwriter Mitte der 1970er Jahre.
5 Sep 2023
## LINKS
[1] /Neil-Youngs-Rueckzug-von-Spotify/!5827408
[2] /Sound-der-70er-Jahre/!5695452
## AUTOREN
Detlef Diederichsen
## TAGS
Neil Young
Yacht Rock
Rock
Neue Musik
Neues Album
Musik
wochentaz
Jane Birkin
Musik
Musik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Re-Release von Nanci Griffith-Alben: Mehr als das große Ich
Das Boxset „Working in Corners“ widmet sich dem Erbe der 2021 gestorbenen
US-Countrysängerin Nanci Griffith. Ihr Werk wird so dem Vergessen
entrissen.
100 Jahre Tuli Kupferberg: Wellen im Underground
Tuli Kupferberg ging radikale Wege, um ohne Arbeit zu leben. Nun wäre der
Beatnik, Rockstar, YouTuber, Anarcho und Pazifist 100 Jahre alt geworden.
Nachruf auf Sängerin Jane Birkin: Halb gestöhnt, ganz geliebt
Frankreich und nicht nur Frankreich trauert. Die britische Schauspielerin
und Chanteuse Jane Birkin, ist 76-jährig gestorben. Ein Nachruf.
Nachruf auf David Crosby: Westcoast-Hippie mit Engelsstimme
Nach langer Krankheit ist David Crosby gestorben. Mit den Byrds und als
Teil von Crosby, Stills, Nash & Young beeinflusste er die Gegenkultur.
Malerin und Musikerin Norma Tanega: Aus dem Leben einer Bohemienne
Norma Tanega ist die große Unbekannte des US-Folk. Ein Album mit ihren
schönsten Songs und ein Buch bieten nun Gelegenheit zur
(Wieder-)Entdeckung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.