| # taz.de -- Re-Release von Nanci Griffith-Alben: Mehr als das große Ich | |
| > Das Boxset „Working in Corners“ widmet sich dem Erbe der 2021 gestorbenen | |
| > US-Countrysängerin Nanci Griffith. Ihr Werk wird so dem Vergessen | |
| > entrissen. | |
| Bild: Die Sängerin Nanci Griffith bei einem Konzert im schottischen Perth 2008 | |
| Ein referenzielles Wunderland. [1][Taylor Swifts] aktueller Konzertfilm | |
| „The Eras Tour“ schwelgt in Anspielungen. Da erleben wir die US-Popsängerin | |
| zum Song „Tolerate It“ in einer Szenerie mit übergroßem Esstisch, die | |
| wachsende Kluft zwischen einem Paar symbolisierend. | |
| Offensichtlich ist das entliehen aus Orson Welles Klassiker „Citizen Kane“. | |
| Ein Song aus der Coronaphase, in der Swift sich auf ihre Verwurzelung im | |
| Countrygenre zurückbesann. Wie geht das mit filmhistorischen Zitaten | |
| zusammen? Ist Country nicht entweder strassbesetzter Glitzer mit Cowboyhut | |
| oder totgeweihte, alte Männer im Ledermantel? – Nein. | |
| Es war die 2021 im Alter von 68 Jahren verstorbene US-Singer-Songwriterin | |
| Nanci Griffith, die das Zitat in den Country brachte. Dabei war es die | |
| Intensität des Ichs, mit dem [2][Bob Dylan] die Folk-Musik der 1960er | |
| umkrempelte, was dann auch die junge Nanci zur Gitarre greifen ließ. | |
| Bald wies der Teen mit dem zarten Stummfilmgesicht in Clubs der texanischen | |
| Country-Folk-Szene sein Publikum zurecht, gefälligst nicht zu quatschen, | |
| und das taten sie dann auch nicht mehr, denn Griffiths Songs hatten Tiefe | |
| und Klasse. | |
| ## Vor dem Alter gefeit | |
| Gleich Taylor Swift, die in ihrem Erscheinen mal an Disneys Alice, mal an | |
| [3][Lauren Bacall] in einem Film noir erinnert, schien Griffith vor dem | |
| Altern gefeit. Wie ein Mädchen aus dem 19. Jahrhundert blickt sie 1978 von | |
| der Rückseite ihres Debütalbums und war doch bereits Mitte 20. Während ihre | |
| Musik vom Folk über Bluegrass zum Country und in den Pop mündet, war die | |
| Künstlerin in mannigfaltigen, sorgfältig selbstinszenierten Rollen zu | |
| erleben. | |
| Vor kurzem erschien das Boxset „Working in Corners“, das ihre ersten vier | |
| Alben wieder erhältlich macht. Auf dem Cover des Drittlings „Once in a Very | |
| Blue Moon“ sitzt Griffith verklärt in einem Drive-in, auf den Liebsten | |
| wartend, der nicht kommen wird. | |
| Den gleichnamigen Song mit seiner herzerweichenden Bridge könnte auch Swift | |
| singen. Doch Griffith beherrschte mehr als das große Ich: „Love at the Five | |
| and Dime“ erzählt vom jungen Paar, welches die bürgerliche Existenz für ein | |
| unstetes Musikerleben aufgibt. Der Aufbruch aus dem Ländlichen in die | |
| Boheme war eines von Griffiths zentralen Themen. | |
| Auf der Rückseite des Albums, welches besagten Song enthält, posiert sie, | |
| kokett mit Larry McMurtrys Roman „Lonesome Dove“. Ja, Einsamkeit schien die | |
| Griffith stets zu begleiten. Dabei war sie von Musikerfreunden umgeben. | |
| Einige versammelten sich für das ebenfalls unlängst erschiene Tributalbum | |
| „More Than a Whisper: Celebrating the Music of Nanci Griffith“. | |
| Wir hören liebevolle Verbeugungen von Emmylou Harris, John Prine und Steve | |
| Earle. Mary Gauthier veröffentlichte neben ihrem Songbeitrag online einen | |
| Text. Er berichtet wie Griffiths Worte „There’s a light beyond these woods, | |
| Mary Margaret. Do you think that we will go there and see what makes it | |
| shine?“ sie als junge Außenseiterin mit Drogenproblemen profund berührten, | |
| nennt den Song eine aufrichtige, vom „Born to run“-Pathos befreite Vision | |
| des Aufbruchs. Doch an eine Coverversion von „Mary Margaret“ wagte sich | |
| weder sie noch eine der anderen. | |
| ## Erfinderin des postmodernen Zitatpops | |
| Was wäre auch die Version wert, die man endlich ohne Tränen über die Lippen | |
| brächte? Träume und die Härten des Lebens waren Griffiths Metier. Ihre | |
| Sommerkleider mit Laura-Ashley-Charme, weiße Strümpfe, Schnürstiefeletten | |
| und Ansteckbuttons mit politischen Slogans inspirierten den Look junger | |
| Frauen, die Bücher, deren Umschläge sie auf Plattenhüllen in Szene setzte, | |
| wurden gekauft und gelesen. | |
| Griffith erfand den postmodernen Zitatpop für die Country-Welt, gleich | |
| Madonna prägte sie ihr eigenes Image. Ihre melodisch reichen Songs waren | |
| keinesfalls im Retro verhaftet, sondern strebten in die Zukunft. Sie | |
| komponierte diese ohne studierte Profis an ihrer Seite, die ihr den Weg zum | |
| Massenerfolg gebahnt hätten. In ihren Liedern über Trennungen oder über das | |
| Überleben der Ernteausfälle in der „Dust Bowl“ der 1930er Jahre lebt weit | |
| mehr als das selbstbezogene Ich, welches Taylor Swift geblieben ist, nebst | |
| einer Musik, die keine Zukunft mehr sucht und sich nirgends abarbeitet. | |
| Ein in den 1990ern verfasster Roman Griffiths „Two of a Kind Heart“ | |
| erschien nun ebenfalls erstmals. Er legt behutsam einen Rahmen um viele | |
| ihrer Songs, lässt sie in einem Gesamtkunstwerk zusammenfinden, ein | |
| gestaltetes Leben, die Selbstbefreiung stiller Außenseiter. Und ja, | |
| vielleicht ist es das: Wo Nanci Griffith zu jenen sprach, die nicht passen, | |
| richtet sich Taylor Swift heute an jene, die sich sorgen, nicht zu passen. | |
| Cool war nur eine von beiden. | |
| 8 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Tepel | |
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