# taz.de -- Lou-Reed-Konzert in Berlin: Heiter bis wolkig | |
> Zum Auftakt seiner Deutschlandtour spielt Lou Reed unter dem Titel „From | |
> VU to Lulu“ in der Zitadelle Spandau in Berlin ein durchwachsenes Konzert | |
> – im Dauerregen. | |
Bild: Das Gesicht eine Mischung aus Hellmuth Karasek und Rita Süssmuth, sardon… | |
Die mündliche Prüfung erfolgt schon auf der Rolltreppe zur U-Bahn. Warum | |
ich eine Brille tragen würde, will ein dicklicher türkischer Junge wissen. | |
Warum nicht, entgegne ich. Die Antwort zieht keine weiteren Fragen nach | |
sich, nur Kopfschütteln. Auf nach Spandau, einmal quer durch die Stadt. | |
Lou Reed hat sich angekündigt. Der Konzertort, inmitten von Autohäusern und | |
Fliesenmärkten, an einer Ausfallstraße gelegen, muss ihn an die Vorstadt in | |
Long Island, New York, erinnern, aus der er in den frühen Sechzigern | |
aufgebrochen ist. Und in deren Welt er seither immer wieder zurückkehrt, | |
sei es, um unerbittliche Songtexte über ihre Bewohner zu verfassen. Sei es, | |
um Geld locker zu machen, etwa von dem Schuhverkäufer Norman Dolph. | |
Wenn jetzt allerorten das Mäzenaten-Modell als neuer Ausweg aus der Krise | |
der Musikindustrie heraufbeschworen wird – das gab es bereits 1966, als | |
jener Dolph das Debütalbum von Velvet Underground finanzierte. | |
Reed, inzwischen 70-jährig, ist der Mäzen des miesen Wetters am | |
Mittwochabend. Dauerregen als Strafe für diejenigen, die ein | |
Open-Air-Konzert von ihm in der Vorstadt sehen wollen. Für 56 Euro aufwärts | |
auf dem Exerzierplatz in der „Zitadelle Spandau“, wo eine riesige Bühne | |
steht. Davor hat sich das ganze Elend der Funktionsbekleidung versammelt. | |
## Breitkrämpiger Hut und Burberry-Schirm | |
Ältere Paare in deckungsgleichen weiß-roten Regenponchos, fidele | |
Fliegenpilze, die am Schwenkgrill noch schnell eine Merguez-Wurst mampfen, | |
bevor es losgeht. Andere, mit breitkrempigem Hut, grüner Wachsjacke und | |
handgenähten Lederschuhen, haben ihren prachtvollsten Schirm aus dem | |
Kofferraum geholt: in Burberry-Karomuster inklusive Seitenausleger, der | |
auch gleich als Sichtschutz dient und den anderen den Blick auf die Bühne | |
versperrt. | |
Rock ’n’ Roll? Schon eher ein Vater und sein Sohn, identische | |
Trekkingschuhe, dazu Schirme mit Sponsorenaufdruck: retro, von Geburt an. | |
Selbst die muskelbepackten, ganz in Schwarz gekleideten | |
Harley-Davidson-Fahrer haben ihre grauen Zopfmatten unter durchsichtigen | |
Regenhauben in Sicherheit gebracht. Eine durch und durch bundesbürgerliche | |
Anorak-Armada ist also gekommen, um sich Reeds Songs über Drogenerlebnisse, | |
Blowjobs und strukturelle Gewalt gegen Frauen anzuhören. „From VU to Lulu“ | |
ist der Abend betitelt. Anders als 2007, als er ausschließlich sein Opus | |
Magnum „Berlin“ im Programm hatte, sollen es diesmal Songs aus | |
verschiedenen Schaffensphasen sein. | |
„Rechtzeitig vor dem Konzert hört es zu regnen auf“, frohlockt eine | |
Zuschauerin. Mitnichten. Der alte Griesgram lässt die Menschen buchstäblich | |
im Regen stehen, vom Band ertönt minutenlanges Gitarrenfeedback. Gut 20 | |
Minuten nach dem angekündigten Beginn taucht Lou dann plötzlich auf, im | |
langen schwarzen Stoffumhang. Das Gesicht eine Mischung aus Hellmuth | |
Karasek und Rita Süssmuth, sardonisch lächelnd, mit staatsmännischer Geste, | |
die Arme weit ausbreitend. Mehr Verbrüderung ist nicht und wird den Abend | |
über auch nicht sein. Ansagen spart er sich weitgehend. | |
„Brandenburg Gate“, der Auftaktsong seines letzten, 2011 zusammen mit | |
Metallica veröffentlichten Albums „Lulu“ bildet auch den Anfang des | |
Konzerts. „I was thinking Peter Lorre / When things got pretty gorey / As I | |
crossed Brandenburg Gate“ lässt er seine Protagonistin „Lulu“ sagen. Und | |
was hat das Brandenburger Tor mit Lulu zu tun? Reeds Stimme hält die Töne | |
scheinbar mühelos und sie bleibt auch bis zum Ende sicher und gut hörbar. | |
Auch als bei „Brandenburg Gate“ Huren-Körperteile auf die Größe von | |
Nachtischtellern schrumpfen, bleibt „Lulu“, das Triebwesen auf der | |
Schattenseite des Lebens, fröhlich, dank Opium. | |
## Uninspirierte Härte | |
Reed trinkt das Konzert über Wasser. Begleiten lässt er sich von einer | |
siebenköpfigen Band, inklusive zwei Keyboardern und Saxofonist. In der | |
Mehrheit junge Musiker, die seine Enkel sein könnten und ehrfürchtig zu | |
Werke gehen. Als „Eichhörnchen“ hat er sie kürzlich in einem Interview | |
bezeichnet. Besonders aufdringlich gut gelaunt ist der Gitarrist zu seiner | |
Rechten, der zu den Klängen seiner Fender-Stratocaster die Zähne fletscht, | |
dass es einem Primaten zur Ehre gereichen würde. Erträglicher wird das erst | |
wieder durch die vorgeschriebenen Riffs in „Heroin“ und „Waiting for my | |
Man“, Songs, die das Publikum sofort erkennt und dementsprechend dankbar | |
aufnimmt. | |
Das „Lulu“-Material wird nach und nach, wie eine Art Fortsetzungsgeschichte | |
in das Set eingestreut, aber es bleibt farblos. Ist es das Korsett der | |
Literaturvertonung, das die Songs live recht bald in die kompositorische | |
Einbahnstraße einbiegen lässt? Die repetitiven Metalriffs sollen | |
Sprungbrett für Reeds Monologe sein; ihre routinierte, aber letztlich | |
uninspirierte Härte unterstreicht seine Gewaltfantasien aber viel zu sehr, | |
anstatt ihnen musikalisch etwas entgegenzusetzen. Viel subtiler harmonieren | |
Band und Star bei „Senselessly Cruel“, einem Song von Reeds 76er Album | |
„Rock ’n’ Roll Heart“, der die scheinbar naive Unschuld von Sixties-Tee… | |
gegen eine unglückliche Liebesgeschichte verzahnt. | |
Auch „Walk on the Wild Side“, eine Hassliebe von Lou Reed, Inbegriff des | |
säuselnden Sommerhits, überzeugt gerade durch seine Seelenlosigkeit, die | |
sich im Dauerregen verstärkt. Richtig mürrisch wird es dann bei „Sad Song“ | |
dem Finale von „Berlin“, bei dem drei Gitarren und die Geige der Musik die | |
Gravität geben, die sie verdient und Reed das menschliche Drama | |
teilnahmslos, aber umso eindringlicher rüberbringt. „Lulu“ bleibt dagegen | |
so leblos wie die Wachspuppe aus dem Berliner Museum der Dinge, die das | |
Plattencover ziert. | |
21 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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