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# taz.de -- Zelluloid als Material: Spiel mit dem Streifen
> Digitalisierung macht den Filmstreifen überflüssig. Aber auch jenseits
> des großen Kinos kann Zelluloid Erstaunliches leisten. Was, das zeigt die
> Frankfurter Schirn mit einer Ausstellung.
Bild: Vielseitiger Stoff: Aus Zelluloid lässt sich mehr machen als nur Film.
Eine radikal entschleunigte Vorstellung vom Filmemachen legte der
US-amerikanische Künstler Tony Conrad an den Tag, als er Anfang der 70er
Jahre seine "Yellow Movies" anfertigte. Er bemalte eine große weiße
Leinwand mit weißer Farbe, rahmte sie schwarz ein und ließ dann die Zeit
verstreichen, bis die weiße Fläche unter dem Einfall des natürlichen Lichts
vergilbte. In einer Kamera vollzieht sich die Belichtung im Bruchteil einer
Sekunde; bei den "Yellow Movies" brauchte es Wochen oder gar Monate, bis
das Licht seine Wirkung entfaltete. Zur selben Zeit drehte Conrad seine
"Food Films". Wobei "drehen" das falsche Wort ist; schließlich benötigte er
auch hierfür keine Kamera. Stattdessen ließ er 16-mm-Filmstreifen in
verschiedenen Gerichten mitköcheln. Die Hitze und die Zutaten griffen die
Emulsion auf dem Plastikstreifen an. In einem der Ergebnisse, der
einminütigen 16-mm-Arbeit "Curried 7302" aus dem Jahr 1973, sieht man
zunächst schwarzbraune Farbflächen mit hellen, mal zackigen, mal fließenden
Flecken; die Farbflächen gehen dann ins Rötliche und Grünliche über,
manchmal sind sie dunkel gemasert und gesprenkelt. Weil die Bilderfolge
schnell ist, entsteht ein rauschhafter Eindruck. Alles ist Bewegung, nichts
bleibt so lange ruhig stehen, bis es das Auge ganz erfassen könnte.
Projiziert wird "Curried 7302" im Rahmen der beeindruckenden Ausstellung
"Zelluloid. Film ohne Kamera" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle.
Pioniere des so genannten direkten, also ohne Kamera hergestellten Films
wie Stan Brakhage, Hy Hirsh und Len Lye sind mit Exponaten vertreten,
genauso jüngere Künstler und Künstlerinnen wie Jennifer West, Jennifer
Reeves oder Luis Recoder. Sie alle erforschen, was sich ohne Kamera
bewerkstelligen lässt, und das ist eine Menge. Der Filmstreifen lässt sich
beispielsweise Bild für Bild bemalen, wie es Brakhage in seiner
hinreißenden 16-mm-Arbeit "The Dante Quartet" aus dem Jahr 1987 tut: Man
sieht buchstäblich dem Fegefeuer beim Lodern zu. Im Angesicht der
vibrierenden Farben und Formen, die der Projektor zum Leuchten bringt, mag
man aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen.
Mit Rasiermessern, Nägeln und Nadeln rückt die New Yorker Künstlerin Amy
Granat dem Kunststoffstreifen zu Leibe. Am Computer bearbeitet sie den
lädierten Streifen anschließend weiter; das Ergebnis, der halbminütige
schwarz-weiße 16-mm-Film "Ghostrider", spiegelt die eingeritzten Linien
über die vertikale Mittelachse, so dass der Eindruck entsteht, dynamischen
Faltbildern zuzusehen, einer Art Rohrschachtest in Bewegung. Die Französin
Cécile Fontaine zerschneidet Found Footage und klebt es wieder zusammen,
manchmal in mehreren Schichten übereinander, manchmal nebeneinander,
Ausgangsmaterial für ihren Film "La pêche miraculeuse" (1995) ist ein
Tourismus-Werbefilm für die Seychellen. Die ohnehin an Wundern reiche
Unterwasserwelt erscheint darin noch einmal wundersamer.
Ebenfalls mit Found Footage arbeitet das Künstlerkollektiv Schmelzdahin: Es
verbuddelte bereits belichtete Super-8-Filmstreifen im Garten, bis
Bakterien und Feuchtigkeit ihre zersetzende Kraft entfalteten. "Stadt in
Flammen" (1984) ist mit seinem Blasenwurf, seinen zerklüfteten, versehrten,
wie von Schimmel befallenen Bildern ein Zeugnis der eigenen Auflösung.
Verfügbares Licht
So kommen zwei Dinge zueinander: die ernsthafte Reflexion auf die
Vergänglichkeit - die Figuren im Film verschwinden fast unter den
Entstellungen, der Film selbst ist im Begriff zu zerfallen - und die
charmante, verblüffende Zweckentfremdung, die aus der unsachgemäßen
Behandlung resultiert. Die in Frankfurt versammelten Filmemacher und
-macherinnen nehmen dem Material die eigentliche Bestimmung, in einer
Kamera belichtet zu werden, ohne dass die Exponate deswegen aufhörten, Film
zu sein. Im Gegenteil, sie sind Film im besten Sinne, da sie die
Wahrnehmung auf die Probe stellen und ihr zugleich Reize und
Sinneseindrücke schenken, die sie erst noch zu verarbeiten lernen muss.
Eine gewisse Überforderung gehört dazu. Denn das Rauschhafte vieler in
Frankfurt gezeigten Filme macht die Augen auf Dauer müde. Dass so vieles
flackert, liegt wiederum in der Methode begründet: Wollte man auch nur für
eine Sekunde ein ruhig stehendes Bild erzielen, müsste man 24 Einzelbilder
auf genau gleiche Weise bemalen oder zerkratzen. Umso schöner, dass die
Schirn Kunsthalle unterschiedlichen Positionen Raum gibt, neben Künstlern,
die das Rauschhafte betonen, auch solche vorkommen lässt, die wie Dieter
Roth oder Pierre Rovère analytischer vorgehen.
Luis Recoder setzte lichtdicht verpackte Filmrollen einem so starken
Lichteinfall aus, dass es zu einer Belichtung kam. In Frankfurt ist die
Arbeit "Yellow Red" (1999) zu sehen, ein wunderbar warmer Farbverlauf vom
Gelb der Ränder bis zum Tiefrot der Mitte. Welche Farbe wie viel Raum
einnimmt, ändert sich im Lauf der 12 Minuten dauernden Projektion. Das Bild
sieht aus, als stehe es still, obwohl der Filmstreifen unaufhörlich durch
den Projektor läuft. Das Zusammenspiel von Ruhe, Bewegung, Licht und Farbe
bildet einen der Höhepunkte der Frankfurter Schau.
Ein weiterer Höhepunkt ist "Moth Light" (1963) von Stan Brakhage, ein
Klassiker des experimentellen Films. Wer sich an der Schönheit von Insekten
weiden will, spießt die Tiere für gewöhnlich auf, so dass alle Lebendigkeit
aus ihnen herausfährt. Brakhage ging anders vor: Er klebte Motten- und
Schmetterlingsflügel, Fliegenbeine, Blüten und Gräser auf Klebestreifen.
Diese wiederum kopierte er auf transparenten Film. In der Projektion
erhalten die toten Körper- und Pflanzenteile nun neues Leben: Die Flügel
flattern wieder, die Motten umschwirren, obwohl sie tot sind, das Licht.
Und wer gerne in ein Mikroskop blickt, weil es dem bloßen Auge nicht
sichtbare Strukturen offenlegt, kann hier doppelt genießen, da er die
Strukturen und Muster, die Haare an den Fliegenbeinen oder die Linien im
Inneren der Blätter, in Bewegung erlebt. Es gibt Augenblicke schierer
Schönheit in "Moth Light": Einmal etwa öffnet sich eine Blüte, ein anderes
Mal scheinen die Punkte und Zacken auf dem Flügel des Tagpfauenauges wie
ein Wasserzeichen im Bild auf.
Die Kuratorin Esther Schlicht hat sich einen denkwürdigen Zeitpunkt für die
Frankfurter Schau ausgesucht. Denn der Filmstreifen als Bild- und
Tonträger, gleich ob aus Zelluloid, aus Acetat oder aus Polyester, ist im
Begriff, seine über mehr als hundert Jahre gewachsene Bedeutung zu
verlieren. Das liegt daran, dass immer häufiger digital gedreht wird, und
auch daran, dass die Kinobetreiber nach und nach ihre Vorführräume
umrüsten, indem sie die analogen Projektoren ausmustern und digitale
anschaffen. Die 35-mm-Kopie ist teuer in der Herstellung und unhandlich im
Transport. Verleiher profitieren, wenn sie sie durch Festplatten ersetzen.
So gerät der Filmstreifen als Medium allmählich ins Abseits. Es ist also
ein guter Augenblick, sich noch einmal ganz und gar auf seine Materialität
zu besinnen, sich an ihr zu berauschen und sie zu feiern. Wer Festplatten
im Garten vergraben will, möge bis morgen warten.
20 Jun 2010
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Faust
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