| # taz.de -- Künstler Gustav Metzger: Im Schatten des Existenzverlusts | |
| > Geflüchteter, Überlebender, Anarchist und Künstler: Das war Gustav | |
| > Metzger. In Frankfurt ist eine Retrospektive des Nonkonformisten zu | |
| > sehen. | |
| Bild: Gustav Metzger, Historic Photographs, Kill the cars, Camden Town London 1… | |
| Dass die Menschheit sich selbst zerstören könnte, ist ein langlebiger | |
| literarischer Topos. In der Regel geht es dabei um Einzelpersonen, die sich | |
| auf verschiedene Weise ruinieren und zu Tode bringen, dem [1][Freud’schen | |
| Todestri]eb folgend ihre Existenz auslöschen und dabei gelegentlich andere | |
| mitnehmen. | |
| Der [2][Soziologe Emile Durkheim hat Selbstmord] zu einem kollektiven | |
| Phänomen erhoben, Evolutionsbiologen verzeichnen periodische Fälle des | |
| (zuletzt menschengemachten) Artensterbens, die Erdsystemforschung berechnet | |
| die Wahrscheinlichkeit einer ebenfalls anthropogenen „Selbstverbrennung“ | |
| (John Schellnhuber). Anthropologen haben Fälle von Institutionensterben | |
| beschrieben, darunter: „How democracies die“. Nicht zu vergessen ist die | |
| latente Gefahr der Selbstauslöschung in einem globalen nuklearen Desaster. | |
| Derart apokalyptische Autodestruktionen beschäftigen natürlich auch die | |
| Kunst, inklusive der Selbstvernichtung von Kunstwerken. Ein ironisches | |
| Beispiel bot jüngst die Selbstzerstörung [3][eines Kunstwerks von Banksy im | |
| Augenblick seiner Ersteigerung]. | |
| Die „Autodestruktive Kunst“ des 1926 in Nürnberg geborenen und 2017 in | |
| London verstorbenen Gustav Metzger zeigt jetzt eine Ausstellung im MMK | |
| Tower in Frankfurt am Main. Die Retrospektive des notorischen | |
| Nonkonformisten, der dem Holocaust 1939 dank eines [4][„Kindertransports“ | |
| nach England] entkam, thematisiert den Massenmord an Jüdinnen und Juden als | |
| Beispiel der Zerstörungskraft der Menschheit. Für Metzger stand Kunst stets | |
| im Schatten des Existenzverlusts. | |
| Sein Markenzeichen setzte Metzger 1959 mit dem Manifest zur | |
| autodestruktiven Kunst: „Auto-destructive art is primarily a form of public | |
| art for industrial societies“. Einer biografischen Notiz zufolge wechselte | |
| er damals von seinem ursprünglichen Lebensziel „Berufsrevolutionär“ zu dem | |
| eines Künstlers, der radikal mit der typischen Künstlerexistenz brechen | |
| wollte. Kunstwerke sollten stets „ein Element enthalten, das innerhalb von | |
| maximal 20 Jahren automatisch zu ihrer eigenen Zerstörung führt“. | |
| ## Zerstörung als Spektakel | |
| Ein Video zeigt ihn während einer Performance auf der London Bridge, als er | |
| Salzsäure auf einen aufgespannten Nylonstoff sprühte, von dem nur ein paar | |
| Fetzen übrigblieben. Das war noch radikaler [5][als Lucio Fontanas | |
| aufgeschlitzte Leinwände] oder die „Cremation Art“ John Baldessaris, der | |
| seine Arbeiten dem Feuer übergab. | |
| 1960 hatte Jean Tinguely im Skulpturengarten des MoMA eine „Hommage à New | |
| York“ installiert, die sich selbst in Stücke zerlegte. Das beeindruckte die | |
| Populärkultur der Sixties. In einem abgedunkelten Saal des MMK Tower drehen | |
| sich auf sieben Leinwänden psychedelische Lichtprojektionen Metzgers, die | |
| in britischen Clubs und bei Rockkonzerten eingesetzt wurden. Pete Townsend | |
| von The Who, die bisweilen ihre E-Gitarren auf der Bühne zertrümmerten, | |
| bezeichnete sich als Schüler Metzgers, der damals eine Leitfigur der | |
| politisierten Kunstavantgarde war. | |
| Metzgers Arbeiten zum [6][Anti-Atom-Protest], über den Vietnam-Protest oder | |
| zur Anklage der Naturzerstörung sind bisweilen sehr plakativ ausgefallen, | |
| wie der frisch demolierte Kleinwagen („Kill the cars!“) oder die Zeitungen, | |
| die schamlos Billigflüge neben Katastrophenmeldungen annoncieren. | |
| ## Informationsjunkie | |
| Bei Metzger, der als Informationsjunkie Zeitungen hortete und stets einen | |
| Weltempfänger mit sich herumtrug, musste es krachen. Buchstäblich sollte | |
| das auf der documenta 1972 mit einer (abgelehnten) Installation geschehen, | |
| bei der Autos in einem mit Abgasen gefüllten Kasten explodieren sollten. | |
| Miniaturmodell geblieben ist auch eine weitere Installation aus fünf 9 mal | |
| 12 Meter großen Stahlwänden, aus denen jeweils 10.000 Einzelelemente | |
| computergesteuert im Zufallsprinzip herausgeschleudert werden sollten. | |
| 1966 organisierte Metzger das mehrtägige Destruction in Art Symposium | |
| (Dias), zu dem alle seinerzeit angesagten Underground- und | |
| Avantgardekünstler anreisten: [7][Yoko Ono], Wolf Vostell, die [8][Wiener | |
| Aktionisten], von denen mit Günter Brus einer die Selbstzerstörung am | |
| eigenen Körper vornahm. Dieser Aufruhr beeindruckte damals Amsterdamer | |
| Provos und Hippies, später die Punker und radikale Umweltschützer wie die | |
| Gruppe Extinction Rebellion, die Metzgers Mantra in Namen tragen könnte. | |
| Der von Metzger ausgerufenen Generalstreik der Kunst blieb folgenlos und | |
| war eigentlich auch widersinnig, da ja nicht die Kunst aufhören sollte, | |
| sondern die Zerstörung der Welt, der Metzger radikal den Spiegel vorhielt. | |
| Wie „Kunst nach Auschwitz“ aussehen kann, demonstrieren in Frankfurt drei | |
| Exponate der Serie „Historic Photographs„ (1995/99), die Fotodokumente von | |
| NS-Verbrechen nicht ikonisch ausstellen, sondern bewusst verhüllen. Die | |
| Aufnahme von Jüdinnen und Juden in Wien, die 1938 mit Zahnbürsten Gehsteige | |
| säubern mussten, wird nur sichtbar, wenn man sich auf den Boden unter eine | |
| gelbe Decke begibt; das berühmte Foto des von Soldaten umringten kleinen | |
| Jungen im [9][Warschauer Ghetto] hat Metzger bis auf einen Spalt mit | |
| Holzplanken verhängt. | |
| Beeindruckend sind vor allem die stillen, ernsten Kinderporträts, die | |
| Metzger 1949 wohl in Erinnerung an seine Gefährten auf den | |
| Kindertransporten skizziert hat. Aus ihren Gesichtern sind alle Merkmale | |
| einer unbeschwerten Kindheit entwichen. | |
| 21 Aug 2024 | |
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