# taz.de -- Ausstellung zum „Kindertransport“: Den Verhältnissen zum Trotz | |
> Vor 85 Jahren wurden 10.000 jüdische Kinder vor den Nazis nach | |
> Großbritannien gerettet. Eine Berliner Ausstellung erinnert an den | |
> „Kindertransport“. | |
Bild: Zitate aus Briefen dokumentieren Einzelschicksale | |
„Manchmal ist mir bang nach Dir / Doch dann sag ich selbst zu mir / Für das | |
Kind ist’s besser so / Drum freu Dich, holdrio.“ Was im Stile eines fidelen | |
Wilhelm-Busch-Gedichts zu Papier gebracht ist, versehen mit drolligen | |
Zeichnungen von Füllfederhalter und Lachmund, hat einen todernsten | |
Hintergrund. Verfasst wurden die Gedichtzeilen von Arnold Stein als Teil | |
eines mehrseitigen Briefes, den der besorgte Vater zusammen mit der Mutter | |
Erna am 13. April 1939 an die elfjährige Tochter Gerda geschickt hatte, um | |
dem Kind Mut zu machen. | |
Die jüdische Familie floh 1938 zunächst aus der im Sudentenland gelegenen | |
Stadt Karlsbad vor der einmarschierenden Wehrmacht nach Prag. Im März 1939 | |
gelangte Gerda dann als Teil eines [1][„Kindertransports“] von Prag aus per | |
Zug und Schiff nach England und kam bei einer Familie in Dorset unter. | |
Gerda sprach zunächst kein Wort Englisch und musste in der ihr fremden | |
ländlichen Umgang erst Fuß fassen. | |
Wie unzählige weitere jüdische Kinder, die in ganz Großbritannien bei | |
Pflegeeltern Aufnahme fanden, wurde Gerda Stein zum Waisenkind. Zunächst | |
blieb sie ohne Gewissheit über das Schicksal der Eltern. Erst nach 1945 | |
erfuhr sie, dass ihr Vater Arnold und die Mutter Erna im Holocaust von den | |
Nazis ermordet worden waren. | |
2024 jährt sich der sogenannte „Kindertransport“ zum 85. Mal. Damit wird | |
gemeinhin eine logistische Meisterleistung bezeichnet, durch die von | |
November 1938 bis zum Kriegsausbruch im September 1939 auf Vermittlung von | |
Hilfsorganisationen und Einzelpersonen wie dem [2][Börsenmakler Nicholas | |
Winton] mehr als 10.000 unbegleitete jüdische Kinder und Jugendliche | |
zwischen 6 und 17 Jahren aus Österreich, Deutschland, Polen und der | |
Tschechoslowakei vor den Nazis nach Großbritannien in Sicherheit verbracht | |
wurden. Dadurch entkamen sie dem sicheren Tod. | |
Aus diesem Anlass findet nun im Paul-Löbe-Haus des Bundestags die | |
Ausstellung „I said, ‚Auf Wiedersehen‘“ statt. Auf Schautafeln und mit | |
Originalfotos, gestempelten Ausweisen, alten Briefen, Telegrammen und | |
Postkarten sind mehrere Einzelschicksale anschaulich dokumentiert. | |
Etwa das vom sechsjährigen Berliner Steppke Heinz Lichtwitz. Die Mutter | |
hatte sich bereits 1937 aus Angst vor den Nazis das Leben genommen. Vater | |
Arthur, der den Sohn mit der Großmutter aufzog, bevor Heinz 1939 mit einem | |
der Transporte nach England kam, schrieb mehrmals wöchentlich Postkarten, | |
um den Sohn zu motivieren und ihm Hoffnung auf ein Wiedersehen zu machen. | |
Vergeblich, der Vater wurde 1942 in Auschwitz vergast. Heinz war so | |
traumatisiert, dass er Deutsch verlernte und sich später Henry Foner | |
nannte. | |
Prägnante Sätze aus den Briefen auf den Schautafeln, aber auch vollständige | |
Texte von den Postkarten mit umseitigen niedlichen Tiermotiven: Die | |
Vertrautheit im Umgangston, die Einfachheit der Botschaften und die | |
Dringlichkeit wirken berührend, umso mehr, weil Betrachter von den Sorgen | |
und den Schicksalen der Menschen ahnen. Kurz vor der Hilfsaktion waren in | |
Nazideutschland die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ in Kraft getreten, mit | |
der die menschenverachtende Diskriminierung des jüdischen Lebens im Alltag | |
rechtlich verankert wurde. | |
Briefwechsel von Eltern und Kindern | |
Es ist die ungebrochene elterliche Fürsorge, die aus den Briefen spricht, | |
die kindliche Naivität in den Antworten, die gerade deshalb verblüfft, weil | |
die Kinder ihren Eltern gewöhnliche Vorkommnisse schildern: „Gestern habe | |
ich Klavier gespielt, heute einen Napfkuchen gebacken.“ Der Versuch, den | |
Verhältnissen zum Trotz optimistisch zu bleiben, wider die furchtbaren | |
Umstände einen würdigen Alltag zu leben. „Ich hoffe, es gibt keinen Krieg.�… | |
Während Gerda Stein 2021 in England gestorben ist und das Zustandekommen | |
der Ausstellung nicht mehr erleben konnte, freuen sich die beiden | |
Zeitzeug:Innen Hella Pick und Alfred Dubs sichtlich, die zur Eröffnung | |
nach Berlin gekommen sind. Beide flüchteten ebenfalls mit | |
Kindertransporten. Pick, 1929 in Wien geboren, wurde in England zur | |
Journalistin und hat 2022 über ihr Leben in der Autobiografie „Unsichtbare | |
Mauern“ Zeugnis abgelegt. Bewegt erzählt sie, dass sie bei der Zeile „Ich | |
hoffe, es gibt keinen Krieg“ als Erstes an die Gegenwart gedacht hat und | |
[3][die Situation in der Ukraine]. | |
Alfred Dubs, 1932 in Prag geboren, wurde in England zum Politiker und zog | |
1979 für die Labour-Partei ins britische Unterhaus. Sir Dubs wurde 2002 | |
geadelt und [4][kümmert sich auch nach dem Ausscheiden aus dem Parlament um | |
Flüchtlingspolitik]. Er betreut afghanische Flüchtlinge, die in seinem | |
alten Wahlkreis leben. Einzelschicksale helfen der britischen | |
Öffentlichkeit mehr als Statistiken bei der Bewältigung der | |
Flüchtlingspolitik, schildert er seine Erfahrung. | |
6 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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