Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tagebuch schreiben: Chatroom mit mir selbst
> In seinen „Täglichen Notizen“ hielt Thomas Mann fest, was ihm durch den
> Kopf ging. Dank ihm schreibt unsere Autorin wieder Tagebuch. Mit mehr
> Spaß denn je.
Bild: Der Autorin höchstes Vergnügen: alltägliche Beobachtungen mit mittlere…
Am Ende seines Lebens verschnürte Thomas Mann in seinem Haus am Zürichsee
eine Kiste und beschriftete sie mit den Worten „Daily notes from 1933–1955
– without any literary value“. Tägliche Notizen, ohne jeglichen
literarischen Wert. Ich hatte die „Buddenbrooks“ im Abi und ich habe sie
geliebt. Mein Herz gewonnen, meine Routinen für immer verändert hat Mann
aber mit seinen völlig ordinären Klagen und Gedanken im Alter von 60 bis 80
– den „daily notes“.
Ein Literaturwissenschaftler der Humboldt-Universität Berlin kam vor einer
Weile auf die Idee, [1][die besten Sätze daraus zu twittern]. Ein Jahr
lang, ein Eintrag pro Tag von dem jeweiligen Datum. Über 30.000 Menschen
wollten das lesen. Und ich behaupte, Thomas Mann hat mit diesem Zeugnis des
alltäglichen Scheiterns ein Publikum erreicht, das sich ansonsten nicht
mehr unbedingt für die sich über 768 Seiten hinziehende Shitshow einer
Lübecker Kaufmannsfamilie um 1900 erwärmen kann.
„Was soll man sagen.“ (6. 2. 1936), „Wachsender Wunsch, in Ruhe gelassen …
werden“ (3. 6. 1943), „Verfassung jenseits schlechter Laune“ (14. 6. 1939…
„Wenig erquickliche Nacht. Das Partywesen verwünscht.“ (10. 1. 1947),
„Leiden. Rektal-Jucken. Dostojewski.“ (2. 9. 1952), „Tagsüber fast nichts
geleistet“ (14. 8. 1953), „Auch dieser Monat also abgehaspelt“ (31. 8.
1946).
Thomas Mann, ein Millennial wie du und ich? Und weil ich mich so sehr damit
identifizieren kann, noch diese beiden Auszüge: „Sonne, die Feindin. Soll
scheinen, aber nicht auf mich.“ Und: „Auch leide ich seelisch und
körperlich darunter, daß No 4 aller Unterkleider mir zu klein, No 5 mir zu
groß ist.“ I feel you, Tommi.
Worauf ich aber eigentlich hinauswill: Thomas Mann hat mir das
Tagebuchschreiben wieder schmackhaft gemacht. Und das nach einer langen
Phase, in der Influencer:innen diese jahrhundertealte Praxis zunächst
gekapert und ihr dann jeglichen Fun herausgesaugt hatten. Sie nennen es
„Journaling“, das man bestenfalls handschriftlich und vor 6 Uhr morgens
erledigt. Beim Schreiben geht es um Dankbarkeit, Reflexion und sorgfältige
Wortwahl. Das war mir zu stressig.
Dabei ist mir in der Theorie klar, dass Tagebuchschreiben eine gute Sache
ist. Dass es das Wohlbefinden steigert, Stress mindert, bei der Bewältigung
von Krisen und Traumata hilft. Dass es einem das Gefühl geben kann, die
Kontrolle über die eigene Geschichte zurückzuerlangen oder überhaupt erst
zu erkennen, was das Problem ist.
Das Beispiel Thomas Mann zeigt, dass man dafür nicht alle Gehirnzellen
anzuknipsen braucht. Selbstverständlich sind die aufgeführten Sätze oben
nur ein Best-of aus teils seitenlangen Abhandlungen. Doch Mann war sich
ganz offensichtlich nie zu schade, banalste Erkenntnisse festzuhalten oder
die immer gleichen Beschwerden. Er blubberte raus, was ihm so durch den
Kopf ging. Und brachte mich auf die Idee, es genauso zu machen. Seit über
einem Jahr blubbere auch ich alltägliche Beobachtungen mit mittlerem
Erkenntnisgewinn in die Notiz-App meines Handys hinein.
Jeden Tag ein neuer Post, alle gespeichert im Ordner „TAGEBUCH“, wo sie
sich automatisch nach Datum sortieren. Ich mache das kurz vorm Einschlafen,
so, als würde ich eine allerletzte Whatsapp-Nachricht verschicken. In genau
der Sprache. Schnell reintippen, was ich so erlebt, gedacht, gefühlt habe.
Selten mehr als fünf Sätze, manchmal nur Stichpunkte, und wenn die
Autokorrektur irgendwas zerschießt, lasse ich es so. Ein Chatroom mit mir
selbst – vielleicht die ehrlichste Konversation in meinem ganzen Telefon.
Ich habe noch nie so erfolgreich Tagebuch geführt, und glauben Sie mir, ich
habe es probiert. In einem Karton in der Garage meiner Mutter stapeln sich
Exemplare der Marke [2][Diddl], Harry Potter oder Moleskine,
allerhöchstens bis zur Mitte beschriftet, dazwischen immer wieder
herausgerissene Seiten.
Abwechselnd hasse ich darin meine Eltern, diagnostiziere mir selbst eine
schwere „Mitlife-Krises“, fürchte mich vor meinem ersten Zungenkuss und
bezweifle die Existenz Gottes („Aber was ist dann jetzt noch mit Jesus?
Darauf kann ich echt keine Antwort geben!“) Dazwischen analysiere ich
ausführlichst die Power Dynamics in meiner Mädchen-Clique – nicht für mich
selbst, sondern damit das Tagebuch versteht, was ich meine. Und da sind wir
schon beim Kern: Bloß nicht zu viel Mühe geben!
Was bringen nun aber die täglichen Bewusstseinsschnipsel, formuliert mit
der geringstmöglichen Anstrengung? Die Autorin [3][Joan Didion] schrieb
einmal über Tagebücher: „Wir vergessen allzu schnell die Dinge, von denen
wir dachten, wir könnten sie nie vergessen. Vergessen die Liebe genau wie
den Verrat. Vergessen, was wir flüsterten und was wir schrien.“
Wenn mich Kolleg:innen am Montag fragen, was ich am Wochenende gemacht
habe, fällt mir das oft erst nach größter Konzentrationsleistung wieder
ein. Auch wenn es ein super Wochenende war. So oft weine ich vor Lachen und
denke: Das ist so lustig, das werd’ ich nie vergessen. Drei Stunden später
ist es futsch.
Seitdem ich mir abends selbst eine Nachricht schreibe, vergegenwärtige ich
mir in diesem guten Moment kurz: Das ist ein außergewöhnlich schöner
Augenblick, Leonie, das merkst du dir noch bis zum Ende des Tages, das
schaffst du! Und so passiert ganz nebenbei, dass man im Alltag häufiger mal
rauszoomt und bemerkt, gerade vielleicht so was wie „glücklich“ zu sein.
Jetzt muss ich bloß aufpassen, dass das hier nicht in diese
Dankbarkeitsschiene abdriftet, von der ich mich eigentlich abgrenzen
wollte. Daher eine weitere Erkenntnis: Alles ist so unglaublich egal. Damit
meine ich nicht Existenzielles, sondern diesen ganzen gottverdammten
Nervkram, mit dem man sich on a daily basis auseinandersetzen muss. Um das
einzusehen, braucht es vielleicht kein Tagebuch – trotzdem ist es schön,
Schwarz auf Weiß zu haben, wie sich die meisten Krisen nach kürzester Zeit
in Luft auflösen.
Joan Didion schreibt noch, dass sie zu vielen Versionen ihrer selbst keinen
Kontakt mehr habe. Sie könne erlebte Szenen zwar visualisieren, sei darin
aber nicht mehr anwesend. Ein Tagebuch könne helfen, sich gänzlich in die
Stimmung dieser Person von früher zurückzuversetzen. Am besten halte man
sich all die Menschen, die man einmal war, sowieso möglichst nah, so
Didion. Sonst kämen sie irgendwann zurück, um zu spuken.
Ich bin mir sicher, dass die Aufzeichnung des eigenen Lebens und Erlebens,
dem In-Kontakt-Bleiben mit sich selbst, sehr hilfreich ist bei allem
Zwischenmenschlichen. Insbesondere im Umgang mit jungen Erwachsenen,
Jugendlichen, den eigenen Kindern oder anderen. Stichwort Empathie, Sie
wissen schon.
Bevor es zu pathetisch wird, gebe ich die letzten Worte Thomas Mann. Am 20.
Juli 1934 hat der ausnahmsweise Erfreuliches zu berichten. Er habe endlich
wieder begonnen, „morgens nackt ein wenig zu turnen“.
14 Oct 2023
## LINKS
[1] https://twitter.com/DailyMann
[2] /Das-Ende-der-Diddl-Maus/!5039855
[3] /Nachruf-auf-Joan-Didion/!5824281
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
Tagebuch
Erinnerung
Thomas Mann
Oper
Schwerpunkt Stadtland
Anarchie
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Buddenbrooks“ als Oper in Kiel: Mit der Kartoffelpresse püriert
Der Veroperung von Thomas Manns erstem Roman sind Ironie und Feinsinn
fremd. Ludger Vollmers rasante Musik kann das plumpe Libretto nicht
überspielen.
Schriftkünstler Axel Malik über Schreiben: „Es ist ein Raum der Reflexion“
Axel Malik schreibt, jeden Tag, nicht entzifferbare Zeichen. In dieser
„skripturalen Methode“ findet er zu einer Sprache, unlesbar, aber nicht
unleserlich.
Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933: Mühsams entzifferte Notizen
Die Notizbücher Erich Mühsams von 1926–1933 liegen jetzt vor. Sie zeigen
die politische Arbeit des Dichters und Anarchisten nach der Haftentlassung.
Haushaltsauflösung nach dem Tod: Was vom Leben übrig bleibt
Als der Vater der Autorin aus Lübeck starb, hinterließ er ein Haus in Trier
voller Vergangenheit. Mit ihren Brüdern musste sie aufräumen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.