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# taz.de -- Die Wahrheit: Sommerwänste
> Tagebuch einer Hinguckerin: Einer Flaneurin kann in einer Stadt wie
> Berlin das ästhetische Phänomen der freigelegten Männerwampe nicht
> entgehen.
Bild: In der Onlineausgabe der Tagebücher eröffnet sich ein ganzer Mühsam-Ko…
Sommer in Berlin. Zuerst die guten Nachrichten: Ich habe in einer
Südseitenwohnung eine Woche bei 33 Grad überlebt, mein Keller ist bei
mehreren Wolkenbrüchen nicht vollgelaufen, und René Pollesch übernimmt als
Intendant die Berliner Volksbühne. Jetzt die schlechten: Die Temperaturen
liegen dauerhaft im Schmorbereich, und ich darf auf der Straße weiter
Männerplauzen bewundern.
Leider erwischen einen die Attacken auf das persönliche ästhetische
Empfinden ja immer unvorbereitet. Hitzeblöd und nichts Böses denkend döst
man vor irgendeinem Café, fröhlich plaudernde Damen schütteln
hüftschwingend ihren Speck an einem vorbei, die Stoffe ihrer
blumengemusterten Sommerkleider wie freundliche Sommerwiesen über
Körperfalten wogend. Kaum sind sie außer Sicht, beginnt die Parade des
Grauens, auf jede zweite Passantin kommt nämlich mindestens ein prall
geblähter Männerwanst, bei dessen Detonation man nicht dabei sein möchte.
Das Irre ist, dass sich sein Besitzer offenbar im Glauben befindet, mit
seinem Anblick die Menschheit, vermutlich gar die Damenwelt zu beglücken,
anders ist das selbstbewusst durchgedrückte Kreuz, mit dem er seinen Bier-
und Currywursttank breitbeinig vor sich herschiebt, nicht zu erklären. Wie
so oft wird „Be Berlin“ mal wieder gründlich missverstanden.
Denn wie man als leidgeprüfte Flaneurin weiß, steht ausgerechnet bei
Plauzenbesitzern der „Wife Beater“ – das in den USA treffend als
„Frauenprügler“ bekannte ärmellose Unterhemd – besonders hoch im Kurs. …
einem langen Leben unter anderem an sehr heißen Orten darf ich behaupten,
dass dieser Anschlag auf die Sinne – optisch wie olfaktorisch – nirgendwo
so verbreitet ist wie in Berlin.
Schweißfleckig spannt Stoff über bis zum Platzen gespannten
Medizinballwampen und gibt angestrengter Dehnung zum Trotz haarige Streifen
zwischen Nabel und knapp überm Schamhaar abschließenden Hosenbund frei. Als
Zugabe erhält die gequälte Betrachterin rückseitig Einblick in bleiche
Gesäßspalten, der „Wife Beater“-Träger mag es nämlich wie beim Auto gern
tiefergelegt.
Just in dem Moment, in dem sich zaghaft die innere
Political-Correctness-Warnanlage meldet und „Achtung, Achtung! Sie
betreiben Bodyshaming!“ zirpt, naht wie eine Fata Morgana im Hitzedunst die
Rettung. Das bläulichweiße Haar sorgsam onduliert und von einer
sommerlichen Spitzenwolke in Form eines Blüschens umweht, spaziert eine
Gestalt aufrecht auf mich zu. Glänzendes Geschmeide ziert die Ohren,
dezenter Lippenstift den Mund. Die Blicke begegnen sich, man äußert spontan
Bewunderung für diese Wohltat auf zwei Beinen. „Ja“, erwidert die
Erscheinung lächelnd, „87 Jahre. Aber das mit der Eitelkeit hört ja nie
auf.“
Wehmütig folgt ihr der Blick, während sie zwischen Unterhemden und
Schlabbershorts im Hitzedunst entschwebt. Möge sie hundert Jahre alt werden
und zahlreiche Enkelinnen haben, die alle so sind wie sie!
20 Jun 2019
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Flaneurin
Männerbäuche
Berlin
Deutsche Bahn
Bretagne
Berlin
Schwerpunkt Verbrecher Verlag
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