| # taz.de -- Die Wahrheit: Enten und Hymen | |
| > Tagebuch einer Hinguckerin: Berlin als Nahkampfgebiet der Grobheit. Was | |
| > die Insassen der Hauptstadt an speziellen Zärtlichkeiten zu bieten haben. | |
| Seit Jahren zieht alles, was Beine hat, nach Berlin, wo man bei | |
| 24-Stunden-Partys jetzt auch unbelästigt auf E-Rollern über Bürgersteige | |
| brettern darf. Die Neuzugänge erlernen schnell die gängigen Umgangsformen, | |
| denn schon nach kurzer Zeit befällt sie eine als Berlin-Syndrom bekannte | |
| Amnesie, die einfache Vokabeln wie „bitte“, „danke“ und „Entschuldigu… | |
| löscht. Zum Ausgleich fürs grobe Ganze möchte ich heute von drei Beispielen | |
| aus der Serie „Hauptstadt, zart und empfindsam“ berichten. | |
| Erster Schauplatz: U-Bahn, klassisches urbanes Nahkampfgebiet. Auf dem Sitz | |
| gegenüber eine junge Frau, auf ihrem Schoß eine mit Luftlöchern gepiercte | |
| Tasche. Nach fünf Minuten schweigsamer Fahrt siegt die Neugier. „Was haben | |
| Sie denn da drin?“ Als Antwort öffnet sie den Reißverschluss, zupft zart an | |
| einem Deckenzipfel, und es erscheint ein herzallerliebstes Entenküken ohne | |
| die geringste Ahnung von der rauen Welt, die es umgibt. „Verwaist“, erklärt | |
| seine Retterin knapp. „Süüüß“, stammle ich blöde, vor so viel Flauschi… | |
| kapitulieren selbst Hartgesottenere. | |
| Der nächste Beweis für die neue Empfindsamkeit kommt direkt aus dem | |
| Epizentrum der Macht, wo nicht nur die Geschicke Berlins, sondern der | |
| Nation, ja, der Welt bestimmt werden. Unter einem Video von Angela Merkel | |
| und dem finnischen Ministerpräsidenten beim Anhören der Nationalhymne lese | |
| ich auf der Website eines bekannten Nachrichtenmagazins Folgendes: „Beim | |
| Abspielen der Hymen begann Merkel an der Seite von Antti Rinne zu zittern.“ | |
| Bei dieser Gelegenheit grüße ich als altgediente Vertreterin der Disziplin | |
| „Verleser und Verhörer“ mit neidlosem Respekt die „Verdrucker- und | |
| Verdreher“-Redaktion von Spiegel Online. Das war groß! | |
| Sich das Abspielen von Jungfernhäutchen durch eine Militärkapelle | |
| vorzustellen, ist eine echte Herausforderung. Spontan imaginierte ich einen | |
| eher feinen, mithilfe eines winzigen Klöppels hervorgerufenen Elfenton, | |
| eine zarte Schwingung, die einen in andere Sphären sanft durch den Tag | |
| trägt. Bei der eher tschingderassamäßigen Interpretation durch eine | |
| Militärkapelle würden zarte Häutchen wie Hymen vermutlich im Umkreis von | |
| zwei Kilometern massenweise kaputt gehen. Warum Merkel zitterte, | |
| beschäftigte mich weniger. | |
| Die Welt ist voller An- und Abspielungen, wie auch das dritte Beispiel | |
| zeigt. Neulich lag beim Arzt im Wartezimmer die Cosmopolitan, das Hausblatt | |
| für die informierte Frau, und gab Ratschläge zum Thema „Heißer Scheiß –… | |
| in der Hitze“. Hymen kamen dabei nicht vor, wahrscheinlich wurden sie | |
| gerade irgendwo abgespielt. | |
| Mein Vorschlag zur Rettung des Zartgefühls gegen all die Grobheiten der | |
| Welt: Bei Staatsempfängen wird zukünftig eine Neukomposition „Gesang der | |
| Hymen“ vorgetragen, im Gegenzug setzen Besucher als Gastgeschenk verwaiste | |
| Entenküken aus, an denen die Berliner ihre Empfindsamkeit trainieren | |
| können. | |
| 18 Jul 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Frankenberg | |
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