| # taz.de -- Bachmann-Preisträger Ferdinand Schmalz: Bewusstsein ist Pistaziene… | |
| > Ferdinand Schmalz hat seinen Debütroman „Mein Lieblingstier heißt Winter�… | |
| > geschrieben. Herausgekommen ist eine grandiose Prosagroteske. | |
| Bild: Mit alten Dinos lässt sich immer noch Geld verdienen | |
| Norbert und Harald kämpfen sich durch einen verlotterten Urzeitpark. Um sie | |
| herum meterhohes Gestrüpp und verschmutzte Dinosaurier aus Plastik. Die | |
| offenbar überforderten Mitarbeiter einer seltsamen Reinigungsfirma sollen | |
| den „Mikroorganismen auf den Makroechsen zu Leibe rücken“, damit ihre | |
| Auftraggeber aus der „Kinderunterhaltungsbranche“ den ungenutzten | |
| Spaßbetrieb endlich wieder öffnen können. | |
| Doch so unwirklich das Setting, so unrealistisch der Plan der mäßig | |
| begabten Putzteufel: „Wie ausgestorben liegt er da, der Ort“, lautet der | |
| erste Satz im Debütroman des Dramatikers Ferdinand Schmalz. Damit ist das | |
| Thema gesetzt; der Tod spielt jedenfalls die zentrale Rolle in diesem Buch, | |
| das nach dem skurrilen Auftakt mit einer anderen, nicht minder rätselhaften | |
| Geschichte überrascht. | |
| Nun fährt der Tiefkühlkost-Lieferant Franz Schlicht durch die unerträgliche | |
| Sommerhitze, um seinem Stammkunden Doktor Schauer wie jeden zweiten | |
| Mittwoch im Monat eine Portion gefrorenes Rehragout zu liefern. | |
| Schlicht informiert seinen Kunden wie üblich auch über andere Produkte, | |
| bietet Sahnetorten und Bienenstich an. „Doch nichts, der Schauer will nur | |
| Rehragout.“ Was den Vertreter ein wenig beunruhigt, denn so richtig gesund | |
| sieht der Mann nicht aus. Ob das an der einseitigen Ernährung liegt? | |
| ## Doktor Schauer plant den Suizid | |
| Tatsächlich erzählt er von „dem Krebs, der sich in seine Lunge frisst“ und | |
| dass er sich „heute noch das Leben nehmen wird“. Doktor Schauer kündigt an, | |
| drei Schlaftabletten zu schlucken und sich in einen Eisschrank zu legen, | |
| „weil das Erfrieren bei langsam schwindendem Bewusstsein doch die | |
| angenehmste Weise sei zu sterben“. Und er, Schlicht, solle helfen, ihm | |
| diesen letzten Wunsch zu erfüllen. | |
| Mit dieser Passage über den lebensmüden Wildfleischfan gewann Ferdinand | |
| Schmalz 2017 den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, und dass aus dieser Episode | |
| ein längerer Text entstehen könnte, erschien damals eher unwahrscheinlich. | |
| Zu abgeschlossen die pointierte Story, zu grotesk-gedrechselt der Stil. Mit | |
| „Mein Lieblingstier heißt Winter“ hat Schmalz nun auf furiose Weise das | |
| Gegenteil bewiesen. | |
| Der Autor führt in seinem Roman zunächst eine ganze Reihe von kuriosen | |
| Figuren ein, etwa einen korrupten Ministerialrat, der Weihnachtsschmuck aus | |
| der Nazizeit sammelt, oder den Ingenieur Huber, der in einem | |
| festungsähnlichen Haus residiert, weil er mit Sonnenlicht und dem Leben vor | |
| der Tür nichts mehr zu tun haben möchte. | |
| Es tritt auch ein aberwitziger Pathologe auf, der froh ist, „auf Bergen von | |
| Leichen“ zu sitzen, weil in Wien „Körperspenden“ mit einem Ehrengrab | |
| abgegolten werden. | |
| ## Gespür für Dramaturgie | |
| Es geht von einer dubiosen Schattenexistenz zur nächsten, und als das | |
| Gefühl aufkommt, der Text könne auf eine Nummernrevue hinauslaufen, beweist | |
| Schmalz eine gutes Gespür für Dramaturgie, für einen nötigen | |
| Spannungsbogen. | |
| Der suizidale Doktor Schauer verschwindet nämlich aus ungeklärten Gründen, | |
| und seine Tochter Astrid, eine etwas übereifrige Zahntechnikerin, mag nicht | |
| an den Tod des Vater glauben. Anstatt bei dessen Selbstmord zu assistieren, | |
| unterstützt Franz also die Suche nach dem Vermissten. Dabei zeigt Ferdinand | |
| Schmalz, dass er auf der Klaviatur der Ironie sehr unterschiedliche Töne zu | |
| spielen weiß. | |
| Im Schatten des Kühlwagens gönnen sich Astrid und Franz eine kleine | |
| Pistazieneis-Pause, während sie über das Ich philosophiert und behauptet, | |
| die „höhere Instanz da drin im Hirn“ würde keine eigene | |
| Entscheidungskompetenz haben, sondern nur darüber informieren, was | |
| andernorts schon entschieden sei. Diese hirnwissenschaftliche | |
| Verschwörungstheorie kommentiert Franz nahezu schöngeistig: „Bewusstsein | |
| ist Pistazieneis.“ | |
| Aus der privaten Ermittlung, die von unterschiedlichen Seiten sabotiert | |
| wird, entwickelt sich bald ein spannender Kriminalplot mit Überfällen und | |
| Entführungen, Toten und Verletzten. Das Grundthema aber verliert Schmalz | |
| nie aus dem Blick, als sei es „Teil einer größeren Erzählung“ – wie au… | |
| ein Kapitel überschrieben ist. Die Todessehnsucht von Schauer und seinen | |
| Freunden, die sich in einem geheimen Sterbeclub verschworen haben, wird | |
| auch als Phänomen einer dekadenten Klassengesellschaft entlarvt. | |
| ## Showdown im Vergnügungspark | |
| „Ich bin wie ihr, ich baue Mist“, sagt sich Franz in einem seiner helleren | |
| Momente. „Das sei nun mal der Unterschied, dass einer wie der Schlicht, der | |
| darf sich nicht mal einen Fehler leisten, dann landet er vollends im | |
| Dreck“, während sich kriminelle Ministerialräte und durchtriebene | |
| Komplizinnen, werden deren Machenschaften aufgedeckt, sich leicht einem | |
| anderen Geschäft widmen können. | |
| Überall warten verstaubte Dinosaurier darauf, noch einmal zu Geld gemacht | |
| zu werden. Passenderweise ist der schreckliche Vergnügungspark auch der | |
| Schauplatz des dann wirklich vergnüglichen Showdowns. | |
| Der bitterböse Humor dieses Romans erinnert zuweilen an die belgische | |
| Filmsatire „Mann beißt Hund“, wobei Ferdinand Schmalz die düstere Stimmung | |
| nicht nur durch absurde Szenen, sondern vor allem durch seine | |
| elaboriert-schnoddrige Sprache erzeugt. | |
| Die Schmalz-Lesung beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb noch im Ohr, ertappt | |
| man sich bei der Lektüre immer wieder, diese Prosa laut vorzulesen. Auch um | |
| ihren Gestaltungsprinzipien auf die Spur zu kommen: Hat Ferdinand Schmalz | |
| den Text zunächst als groteske Endlos-Ballade angelegt, um den Zeilensprung | |
| schließlich herauszunehmen? | |
| ## Rhythmischer Text | |
| Möglich wäre es, so rhythmisch der Text, so artifiziell die Satzanfänge und | |
| so eigenwillig die Stellung der Wörter in dieser herumwirbelnden Hypotaxe. | |
| Welche Dialektanteile lassen sich in dieser Literatur aufspüren, die sich | |
| sowohl in Bezug auf die Motive als auch den Tonfall permanent parodiert? | |
| Ist diese Form völlig antiquiert oder radikal modern? Oder doch eine | |
| originelle Mischung, für die es kaum Vergleiche gibt? Es spricht für die | |
| Qualität dieses Romans, dass diese Fragen bis zum Schluss nicht wirklich | |
| eindeutig beantwortet werden können. | |
| Auf jeden Fall handelt es sich um ein Fest des theatralischen Schreibens. | |
| Dabei hat Schmalz, dessen Stücke am [1][Wiener Burgtheater,] am Zürcher | |
| Schauspielhaus und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt werden, dieses | |
| Buch keineswegs geschrieben, um es später einmal auf die Bühne bringen. | |
| Selbst wenn die Rolle des Tiefkühlkostvertreters Schlicht schon bald | |
| besetzt werden und die Ausstattung viel Freude am Nachbau eines Dino-Parks | |
| haben sollte, das „Schauspiel“ dieser Literatur besteht nicht zuletzt in | |
| einer bildmächtigen Groteske, die ein Bühnenbild eigentlich überhaupt nicht | |
| braucht. | |
| ## Überzeichnet realistisch | |
| Bemerkenswert auch die Totalabkehr von einem psychologisch grundierten | |
| Realismus, der zeitgenössische Literatur oft so uniform erscheinen lässt. | |
| Die merkwürdigen Schmalz-Gestalten erscheinen gerade in ihrer radikalen | |
| Überzeichnung erschreckend realistisch. | |
| Ohne den österreichischen Echoraum sind die geheimnisvoll umständlichen | |
| Antihelden zwar nicht zu denken, aber in die Schublade des [2][morbiden | |
| Wien- und Austria-Romans] sollte das Buch auch nicht gesteckt werden. „Mein | |
| Lieblingstier heißt Winter“ ist vielmehr als makaber-komische Parabel auf | |
| den inneren Zusammenhang von Egomanie und Selbstzerstörung zu lesen. | |
| 9 Aug 2021 | |
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| Carsten Otte | |
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