# taz.de -- Autorentheatertage in Berlin: „Die Welt ist alles, was der Unfall… | |
> Ferdinand Schmalz hatte mit „am beispiel der butter“ sein Debüt. Nun | |
> eröffnet er mit „dosenfleisch“ das Festival am Deutschen Theater. | |
Bild: „Wir sind alle Teil eines viel größren Unfalls“ sagt die verunfall… | |
Seit Langem schon haben sich die [1][Autorentheatertage], zu denen das | |
Deutsche Theater einlädt, nicht nur einem Best-of der neuen deutschen | |
Dramatik verschrieben, sondern setzen auch auf Autorenförderung. Texte | |
konnten eingereicht und für eine Werkstattinszenierung in der langen Nacht | |
der Autoren ausgewählt werden. Dieses Modell wurde dieses Jahr modifiziert. | |
Erstmals gibt es vier Juroren statt nur einem: der Publizist Peter | |
Michalzik, die Autorin Nino Haratischwili, der Schauspieler Ulrich Matthes | |
und die Regisseurin Jorinde Dröse lasen sich durch 217 eingereichte Texte. | |
Vier wählten sie aus für eine Uraufführung, für die das Deutsche Theater | |
mit dem Burgtheater Wien und dem Schauspielhaus Zürich Koproduzenten | |
gewonnen hat. | |
„Wie kann man auf der Bühne sprechen?“, fragt Peter Michalzik, Sprecher der | |
Jury, in seiner Eröffnungsrede – und F. Schmalz zeigt es mit seinem neuen | |
Stück: „dosenfleisch“ ist ein Sprachkunstwerk zwischen Krimi und Horror, | |
das durch eigene Sprachschöpfung und Rhythmik beeindruckt. Schmalz reizt | |
das Vokabular, die stetigen Bewegungen und Risiken des Verkehrs in einer | |
Kunstsprache aus und überträgt sie auf die Figuren. Sie wirkt gesprochen | |
und umgänglich, aber strotzt dabei nur so vor poetischer Kraft in strengen | |
Metren. Schon 2013 gewann der 1985 in Graz geborene Autor mit seinem | |
Erstling „am beispiel der butter“ den mit 4.000 Euro dotierten Retzhofer | |
Dramapreis für szenisches Schreiben. | |
Im Stück treffen diverse, exzellent gespielte Milieufiguren auf einer | |
Autobahnraststätte aufeinander. Da ist der Versicherungsinspektor Rolf | |
(Tino Hillebrand), der aus privatem Interesse die Todeskurve vor der | |
Raststätte beobachtet. Dann gibt es die Fernsehmoderatorin Jayne | |
(Frida-Lovisa Hamann) und die vermeintliche Raststättenbesitzerin Beate | |
(Dorothee Hartinger). Sie inszenieren tödliche Unfälle. Und schließlich | |
gibt es einen gestrandeten Fernfahrer (Daniel Jesch), der das Geschehen aus | |
der Distanz überblickt. | |
Auch wenn das Aufeinandertreffen der Milieus einen gewissen Witz mit sich | |
bringt, haben sie etwas gemeinsam. Alle sind auf der Suche nach Emotionen | |
und bereit, dafür auf grausamste Weise aus der Welt ihres tauben, linearen | |
Lebens ausbrechen. Ganz nach der Prämisse „Wir fangen erst an zu leben, | |
wenn wir aufhören zu funktionieren“. | |
Bei der Inszenierung fällt es schwer, den Figuren näherzukommen. Das | |
Publikum bekommt nur wenig Informationen und fragt sich, wer die Figuren | |
sind. Es bleibt zum Beispiel unklar, ob die besonders überzeugende Jayne | |
von der Regisseurin Carina Riedl als Untote oder Lebende, reale Figur oder | |
Einbildung inszeniert wird. | |
## Es pulsiert, treibt, erwacht | |
Schon in der ersten Szene schafft es Riedl, die treibende Kraft der Sprache | |
auf die Bühne zu bringen, sie zu ergänzen. Die Szene öffnet mit einem | |
hervorragenden Solo der Percussionistin Katharina Ernst, die die gesamte | |
Inszenierung begleitet und ihr einen Ritualcharakter verleiht. Es ist laut | |
und chaotisch. Wie verunfallt liegen die Figuren auf der Bühne verteilt. | |
Der Beat beginnt zu pulsieren, wird rhythmisch und der Fernfahrer, der als | |
auktorialer Erzähler auftritt, erwacht. Er setzt zu einem Monolog an, der | |
Fahrt aufnimmt, bis er in ein stetiges Gleiten, eine dynamische | |
Vorwärtsbewegung durch die Handlung gerät. | |
Die Fahrt durch den „Fleischnebel“ einer Massenkarambolage endet am Unort | |
Raststätte. Das vor dem Vorhang aufgebaute Bühnenbild (Fatima Sonntag) ist | |
karg und hat kaum mehr Funktionen als den Fernfahrer zu erhöhen. | |
Die Figuren sind von Metall und Licht (Norbert Gottwald) umgeben, wie in | |
einem Auto. So wird die Anspielung des Titels unterstrichen. Der Mensch im | |
Auto ist das Dosenfleisch, das beherrscht wird von Taubheit und dem Warten | |
auf ein Ausbrechen. | |
## Am Ende sind wir alle Unfälle | |
Die Raststätte ist kein Ort für Individuen, wie Beate sagt. Hier kommt | |
niemand an. Hier ist jeder gleich, was auch an den ähnlichen Kostümen | |
(Dagmar Bald) abzulesen ist. | |
Am Ende der Inszenierung verteilen sich die Figuren im Publikum. „Jetzt“ – | |
sie wiederholen das Wort immer wieder – zerfällt die Welt, bis das Publikum | |
vom Flutlicht geblendet in den Alltag zurückkehrt. | |
Carina Riedl bringt die Facetten des Textes von Schmalz auf die Bühne und | |
beeindruckt mithilfe des Ensembles und der Percussionistin. Selbst die | |
Sprache, auf der das Stück ruht, kann seine gesamte Kraft entfalten. Auch | |
ohne neue Perspektive auf die Vorlage wurde ein starker Text stark | |
umgesetzt. | |
16 Jun 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutschestheater.de/spielplan/autorentheatertage_2015/ | |
## AUTOREN | |
Jan Russezki | |
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