| # taz.de -- 90. Geburtstag von Thomas Bernhard: Dem Urteil der Anderen entkommen | |
| > Am 9. Februar wäre Thomas Bernhard neunzig geworden. Das große Rätsel | |
| > bleibt, warum er Menschen einzig aus der Sicht des Hasses beschrieb. | |
| Bild: Poetik als Waffe: Thomas Bernhard in einem Doppelporträt um 1960 | |
| Viele Schriftsteller bemühen sich, ihre Anstrengung beim Schreiben zu | |
| verbergen. Und sie schaffen es in den meisten Fällen nicht. Bei Thomas | |
| Bernhard ist der Fall umgekehrt. [1][Seine Werke] fühlen sich so an, als | |
| hätte er sich anstrengen müssen, um sie entstehen zu lassen. Aber das | |
| musste er nicht. Je länger man liest, desto klarer wird es, wie natürlich | |
| und leicht sein Schreiben ist, wie ein Gang in weißen, weiten Kleidern am | |
| Strand von Marseille, in der Abenddämmerung zu Beginn des Sommers. | |
| Thomas Bernhard spielt im Gegensatz zu anderen Schriftstellern nicht mit | |
| seinen Lesern. Nicht, weil er es nicht könnte. Er kann es spielend. Er | |
| macht es nicht, weil – im Gegensatz zu Künstlern wie Lars von Trier, Julio | |
| Cortázar oder Sophie Calle – der Leser für ihn kein Objekt ist, das | |
| zwischen ihm und seinem Selbstbild vermittelt. Er betrachtet sein Werk | |
| nicht mit den Augen der Leser. Tatsächlich ist seine schriftstellerische | |
| Tätigkeit ein unermüdliches Streben nach einer totalen Trennung zwischen | |
| ihm und dem Urteil seiner Leser. Nur er selbst blickt auf sich. | |
| Die Bewegung hin zur Befreiung vom urteilenden Blick des Anderen gipfelt in | |
| einer Annihilation, einer Vernichtung: einem Zustand, in dem der Blick des | |
| Lesers nicht nur nicht mehr zwischen ihm und seinem Werk vermittelt, | |
| sondern dieser Blick gar nicht mehr existiert für das Subjekt/Objekt, den | |
| lebenden Thomas Bernhard. Für Bernhard ist das Urteil des Anderen ein | |
| Hindernis, um von einem Sein zu einem anderen zu gelangen, es nimmt ihm die | |
| Freiheit, sich immerzu zu verändern und in ständiger Bewegung zu sein. | |
| Dieses Urteil zerstört die Dynamik des Lebens der handelnden Person in | |
| seinem Werk, das heißt auch seiner selbst. Um dem Urteil zu entkommen, | |
| benutzt er seine Poetik als Waffe. Er will uns mit einem repetitiven | |
| Schreiben ermatten, das uns den Atem raubt. | |
| Das konkrete oder abstrakte Seiende | |
| Seine Dichtkunst, die manchmal ringförmig ist und manchmal linear, aber | |
| dabei schleppend langsam, zwingt uns nicht nur dazu, nochmals zu lesen, was | |
| wir schon gelesen haben, um zu verstehen, was geschehen ist, sondern stellt | |
| uns vor die Frage, ob tatsächlich etwas geschehen ist. Diese Frage | |
| unterstützt Bernhards Absichten, denn er weiß ja, dass seine Bücher, die | |
| sich vordergründig mit der inneren Bewegung der Psyche befassen, voller | |
| Ereignisse in der realen Welt sind. Aber seine Beziehung zur realen Welt | |
| macht uns manchmal stutzen. | |
| Er beschreibt das Seiende, das konkrete oder abstrakte, als hätte es eine | |
| ontologische Geltung, die nichts mit ihrer Existenz in der Welt zu tun hat. | |
| Zwar driftet er nirgends in einen radikalen Idealismus ab und negiert auch | |
| nicht die Existenz der realen Welt außerhalb des Bewusstseins, das diese | |
| Welt auffasst, aber er kokettiert ohne Zweifel mit ihm, und manchmal | |
| begehrt er danach, dass er sich eines Tages als richtig herausstellen | |
| sollte. | |
| In diesem Sinn kann man sagen, dass er sich in Bezug auf die Beziehungen | |
| zwischen Sein und Bewusstsein in eine Zwickmühle begibt zwischen einem | |
| Idealismus von Berkeley und der Auffassung von Brentano-Husserl-Sartre, | |
| die am Ende ein intentionales Bewusstsein sehen, das den Objekten erst ihre | |
| Bedeutung gibt. | |
| Dieser Bereich ist der Ort, von dem aus Bernhard auf die menschliche | |
| Existenz blickt. Von hier aus klammert er ihren riesigen Reichtum aus, ihre | |
| Schattierungen und Nuancen. Mehr noch, er erblindet, sobald er gerade | |
| davorsteht, seine eindimensionale Sicht der menschlichen Existenz zu | |
| überschreiten und eine Variante zu entdecken, die er nicht gesehen hatte. | |
| Menschen, so wie er sie sieht, sind erbärmliche und armselige Kreaturen, | |
| und nichts würde ihn von dieser Ansicht wegstoßen. | |
| ## Mehr als Übertreibungskunst | |
| Es stellt sich die Frage, wie ein so großer Schriftsteller (es gibt auch | |
| Kritiker, die im Gegensatz zum Autor dieser Zeilen behaupten, dies bezeuge, | |
| dass er kein so großer Schriftsteller war) die Menschen nur durch die | |
| [2][Linse des Abscheus] sieht. | |
| Es scheint zunächst, dass diese Perspektive nur einen oberflächlichen | |
| Eindruck wiedergäbe und Teil seiner Übertreibungskunst, seiner Rhetorik | |
| sei, die unproportional nur einen Aspekt des Menschen betonen möchte, als | |
| Kreatur, die sich auf dem Spektrum zwischen erbärmlich, verächtlich, | |
| niedrig und böse bewegt, eine Rhetorik, die sich auch in seiner Beziehung | |
| zu Österreich spiegelt, oder besser gesagt, wie er sie benutzt. | |
| Wer ein Buch von Bernhard liest, könnte tatsächlich den Eindruck bekommen, | |
| dass Österreich eine riesige Universität darstellt, an der man | |
| Engstirnigkeit lernt, dass es eine geistige Hölle auf Erden ist, wo alle | |
| Menschen immer schon nichts von Kultur verstanden haben, sondern nur | |
| Geschäfte machten, um sich in ihren eigenen Augen und in den Augen der | |
| Anderen zu verherrlichen, als ob es Freud, Musil, Mozart, Bruckner, Zweig, | |
| Schnitzler, Handke, Wittgenstein, Schubert und andere nicht gegeben hätte. | |
| Natürlich weiß Bernhard, dass auch diese Koryphäen zu Österreich gehören, | |
| und natürlich unterscheidet er zwischen ihnen und den Anderen, aber seine | |
| Übertreibungskunst beschneidet immer wieder alles, was Österreich | |
| hervorgebracht hat, mit so sicherer Hand, bis die Methode, wie er das | |
| macht, die Kategorie eines taktischen Mittels übersteigt. | |
| Deshalb kann die Antwort auf die Frage, warum er die menschliche Existenz | |
| nur durch ein einziges Prisma betrachtet, nicht nur in seiner | |
| Übertreibungskunst liegen, sondern auch in seiner Auffassung der | |
| Hauptfiguren, die immer auf einem Standpunkt von Feindseligkeit der Welt | |
| gegenüberstehen, und um von diesem Standpunkt nicht hinunterzufallen, muss | |
| er ihn stärken. | |
| In Bewegung sein | |
| Anders gesagt: Sein Existenzgefühl und das seiner Hauptfiguren hängt mit | |
| seinem Hass zusammen und dieser mit der Art, wie er sich sieht, im | |
| Zusammenhang mit dem Ort, an dem er sich befindet. Je enger der Ort sich | |
| anfühlt, desto weniger lebendig fühlt er sich, und sein Hass wird stärker. | |
| Nur wenn er sich von Ort zu Ort bewegt, fühlt er sich lebendig und weniger | |
| zerbrechlich, und sein Drang zu hassen verschwindet. | |
| Die Bewegung von Ort zu Ort ist sein Ort, sein Zuhause. Das kommt in seinem | |
| wunderbaren Buch „Wittgensteins Neffe“ zum Ausdruck: „Umgekehrt aber muss | |
| ich, wenn ich ein paar Tage in Wien bin, nach Nathal fliehen, will ich | |
| nicht in der scheußlichen Wiener Luft ersticken. | |
| So habe ich es mir in den letzten Jahren zur Gewohnheit gemacht, wenigstens | |
| in einem Zweiwochenrhythmus Wien gegen Nathal einzutauschen, umgekehrt | |
| Nathal gegen Wien, ich fliehe alle vierzehn Tage aus Nathal nach Wien und | |
| dann wieder aus Wien nach Nathal und bin dadurch, um überhaupt überleben zu | |
| können, ein zwischen Wien und Nathal hin- und hergetriebener Charakter | |
| geworden, der nurmehr noch aus diesem mit der größten Entschiedenheit | |
| produzierten Rhythmus heraus existieren kann.“ | |
| Auf dem Weg zu seinem Streben, gänzlich aus der Welt zu verschwinden oder | |
| zumindest in Bewegung zu sein, was ihn diesem Ziel nahebringen soll, ruht | |
| Bernhard ein wenig in einer Zwischenstation aus, die die Bewegung zwischen | |
| den Orten in ihm ist, eine Bewegung, in der das geschehen kann, was er mehr | |
| als alles andere will: dass die Welt sich auflöse. | |
| Aus dem Hebräischen von Uri Shani | |
| 9 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Yossi Sucary | |
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