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# taz.de -- Neue Bernhard-Inszenierung in Wien: Tapetentüren des Unbewussten
> Keine Seelen, kein Drama – nur Sprache. Lucia Bihler inszeniert am Wiener
> Akademietheater Thomas Bernhards Frühwerk „Die Jagdgesellschaft“.
Bild: Scharlachrotes Puppenheim: Ausschnitt aus „Die Jagdgesellschaft“
Am Anfang war der Trockeneisnebel. Und wie bei Weltschöpfungsakten auf der
Bühne üblich, schält das allmählich einfallende Streiflicht die Silhouetten
der schwankenden Gestalten fix und fertig aus dem Chaos heraus – so ganz
ohne Evolution. Dennoch würde man zu gerne wissen, was in der Welt falsch
gelaufen ist, dass so etwas hat entstehen können: Ein einarmiger General
(Martin Schwab), der in jedem zweiten Satz „Stalingrad!“ röchelt, seine
hohltönende Generalsgattin (Maria Happel), ein schopenhauerisch
herumphilosophierender Schriftsteller (Markus Scheumann), ein von
Borkenkäfern unwiederbringlich zerfressener Wald, ein stummes Prinzenpaar,
intrigante Minister und ein finaler Rettungsschuss im dritten Akt.
Die Rede ist von der Jagdgesellschaft in [1][Thomas Bernhards] frühem Stück
„Die Jagdgesellschaft“. Claus Peymann hatte es 1974 am Burgtheater
uraufgeführt. In der Regie von Lucia Bihler am Wiener Akademietheater –
die Burg wurde über den Lockdown zur Baustelle – sieht sie aus wie die
Hofgesellschaft bei Velázquez. Dessen Porträts zeigen die höfischen Formen
in barockem Glanz, zeichnen die individuellen Züge aber in nachgerade
unhöflicher Präzision. In Wien nennt man diese – sagen wir – auffälligen
Physiognomien gerne „Habsburger Goscherln“.
Dem Theater sind sie Charakter- und Karnevalsmasken, die sich das Ensemble
in bisweilen tänzerischer Leichtigkeit aneignet. Die Barocknummer bleibt
allerdings Stilzitat, Formen und Schnitte übersetzt Laura Kirst in eine
einschnürend-schicke Fetischmoden-Linie aus rotem Lack und Latex. Lucia
Bihlers monochrom-filmischer Blick entdeckt darin die Untoten vergangener
Gesellschaften, irgendwo angesiedelt zwischen Nosferatu und „The Munsters“.
In jedem unbedachten Moment können sie zuschlagen. Hinter den Tapetentüren
des Unbewussten lauern Ungeheuer.
## Scharlachrotes Puppenheim
Pia Maria Mackert hat ein scharlachrotes Puppenheim mit sinstren Winkeln
auf die Bühne gestellt. Das Haus Österreich ist on fire. Das Jagdhaus auf
einem Großgrundbesitz in der österreichischen Provinz verwandelt sich in
das Spukschloss einer Gothic Novel.
Verborgen hinter schmalen schiefen Türen „west“ das Eigentliche. Entstellte
Gestalten kriechen aus den Winkeln. Nach kurzen Blackouts und Wechseln der
Lichtstimmung, in denen das Rot der Ausstattung in der Komplementärfarbe
angeleuchtet schwarz erscheint, erzählen sich die „wahren“ Geschichten, die
tatsächlichen Motive und Personenkonstellationen. Die Monstren kommen, die
Intriganten drohen, Prinz und Prinzessin, die einander gerade noch wie auf
einer Spieldose züchtig umtanzten, verprügeln sich im Schwarzraum
pantomimisch nach bester Mixed-Martial-Arts-Manier.
Eine besondere Rolle spielen die bei Lewis Caroll und [2][Jefferson
Airplane] entlehnten weißen Kaninchen. Chiffren fürs Unbewusste, das
zumindest im letzteren Fall mit psychedelischen Zwangsmitteln an die
Tagesoberfläche geholt wurde. Als Jagdbeute hängen ihre Felle in der
Speisekammer, zwei lebende – kein Tier wird in den Vorstellungen zu schaden
kommen – sorgen für die raren Momente von emotional grundiertem
Körperkontakt. Ein mannshoher Karnickelbock nimmt den Selbstmord des
Generals vorweg, in dem er mit der Flinte kurz auf ihn anlegt.
## Lange Nosferatu-Finger
Beinahe schon zum Protagonisten befördert wird der Holzknecht Asamer (Jan
Bülow). Lange Nosferatu-Finger, eine Gestalt irgendwo zwischen Opa Munster
und Riff Raff aus der „Rocky Horror Picture Show“ machen ihn mit knarzenden
Schrittgeräuschen aus dem Off zum Zeremonienmeister, zum Henker und zum
Totengräber zugleich.
Seine Hiebe auf den Holzblock draußen markieren das Stündlein, das dem
herrschaftlichen Personal drinnen geschlagen hat. Und doch bleibt die Frage
nach einem Erkenntnisgewinn der psychoanalytischen Kur. Bei [3][Bernhard]
scheint, was gesagt wird, irgendwie immer schon gesagt. Die Figuren und die
Gesellschaft, in die sie hineingesetzt sind, sind gleichsam austherapiert,
aber ihre Symptome bleiben. Geschichte gelangt an ihr Ende, aber immer an
das falsche. Eine alte Gesellschaft steht vor ihrem Abbruch, eine neue ist
nicht in Sicht.
Das Schauermärchen, das diese Aufführung als Form wählt, lehrt vor allem
einer Textposition das Fürchten, dem Schriftsteller. Die Konventionen des
Genres fordern Suspense, die Behauptung aktuellen Erlebens, das sich
unweigerlich in ihm zuspitzt. Das führt, wo Bernhard nur die bis ins
scheinbar Unendliche perpetuierten Rituale von gesellschaftlichen Zombies
setzt, trotz der streckenweise hohen Qualität der Darstellung in kognitive
und sprachmusikalische Dissonanzen.
Hier sind keine Seelen. Kein Drama, nirgends. Nur Sprache. Alles tot, wie
der Borkenkäferwald, den selbst die gen Schluss gesungenen
Eichendorff-Verse nicht mehr hoch da droben aufrichten.
30 May 2021
## LINKS
[1] /90-Geburtstag-von-Thomas-Bernhard/!5747670
[2] https://www.youtube.com/watch?v=WANNqr-vcx0
[3] /Comic-ueber-Thomas-Bernhard/!5759176
## AUTOREN
Uwe Mattheiß
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