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# taz.de -- Theater-Inszenierung „Heldenplatz“: Durch den Bauch der Geschic…
> Frank Castorf inszeniert Thomas Bernhards „Heldenplatz“ am Wiener
> Burgtheater: fünf Stunden rauschhafte, politisch relevante Nüchternheit.
Bild: „Heldenplatz“ am Wiener Burgtheater; so aktuell wie schon lange nicht…
Ein körniges Schwarz-Weiß-Bild bedeckt den gesamten Hintergrund der
Burgtheaterbühne. Unter Hakenkreuzstandarten stehen Hunderttausende in Reih
und Glied, die rechten Arme nach oben gestreckt, so regelmäßig wie die
Zinken eines Kamms. Die aufgerissenen Münder lassen das Gebrüll erahnen,
das sich in Wellen über den Platz ausbreitet und an den Tribünen bricht. In
Thomas Bernhards letztem Stück „Heldenplatz“ geht dieses Gebrüll, das 1938
nach dem „Anschluss“ Österreichs auf ebenjenem Wiener Heldenplatz ausbrach,
einer zurückgekehrten Emigrantin auch noch 50 Jahre später nicht mehr aus
dem Kopf.
„Heldenplatz“ ist die große Trauerrede für Professor Schuster, der, als i…
die Gegenwart im Nachkriegsösterreich unerträglich wurde, die Koffer zurück
nach Oxford schon gepackt hatte, sich aber im letzten Moment aus dem
Fenster stürzte; wie Hunderte Wiener Jüdinnen und Juden, die 1938 dem Mob
der Ariseure nicht entkamen.
Die Uraufführung an der Burg in der Regie von Claus Peymann 1988 geriet zum
letzten großen Skandal der Theatergeschichte, wurde sie doch hauptsächlich
als Abrechnung mit den österreichischen Versuchen gelesen, sich aus der
Verantwortung für die eigene Geschichte im Nationalsozialismus zu stehlen.
Möglicherweise ist „Heldenplatz“ ein letzter Text des bürgerlichen
Theaters, mit dem es als sinnstiftende Instanz die bürgerliche
Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit mobilisieren konnte.
35 Jahre später hält Frank Castorf am Burgtheater mit sechs brillanten
Schauspieler:innen eine Séance über fünf Stunden ab, die die Geister
der Vergangenheit beschwört, mit dem Ziel, die neuen zu bekämpfen. Inge
Maux, Birgit Minichmayr, Marie-Louise Stockinger, Marcel Heupermann, Franz
Pätzold und Branko Samarovski bringen darin die theaterarchäologischen
Fundstücke des 20. Jahrhunderts in der Konfrontation von Körper und Sprache
noch einmal zum Leuchten.
## Das Vermeidliche vermeiden
Aber es bedarf neuer Formen. Antisemitismus und Rechtspopulismus haben sich
internationalisiert und in ihrer Gestalt gewandelt. „Wenn es kommt, dann
kommt es nicht so, wie ihr befürchtet habt“, schreibt der amerikanische
Schriftsteller Thomas Wolfe (1900–1938) über die Gefahren eines drohenden
Faschismus in den USA. Er bereiste Deutschland in den 1930ern, war von
Hitler erst begeistert, um später um so heftiger vor ihm zu warnen.
Castorf weigert sich, Geschichte lediglich im Rückspiegel zu betrachten.
Bei Wolfe sucht er die Momente, in denen das Vermeidliche noch hätte
vermieden werden können, aber nicht gesehen wurde. Castorfs Komposition
fügt Wolfe und Bernhard so ineinander, dass ihre intertextuellen Brücken
begehbar werden.
Auf der Drehbühne bildet Alexandar Denić den Abgang zu einer Brooklyner
Subwaystation nach. Das Zugabteil steht für die condition humaine der
Moderne, das Unbehauste des urbanen Lebens bis hin zur millionenfachen
Fluchterfahrung, das, was die kollektiven Fantasien der Rechten zu
unterdrücken suchen. Die Passagiere reden um ihr Leben, während die U-Bahn
im Expresstempo das Streckennetz im Bauch der Geschichte befährt.
Ein Betonbunker wird zum Schutzraum einer jüdischen Familienfeier. Inge
Maux leitet diese, rezitiert Lieder in Jiddisch. Der Atem stockt, wenn die
Familie später aus dem Bunker vor im Innern austretenden Bühnennebel
flieht. Birgit Minichmayr balanciert virtuos auf der Genderwippe, mit
vielen Textpassagen, die die Misogynie Bernhards einem männlichen
Hauptdarsteller widmet. Marie-Louise Stockinger, Marcel Heupermann und
Franz Pätzold agieren in schwindelerregender Artistik. Branko Samarovky,
der Grand Seigneur des Theaters, reizt underacting bis in die letzte
Intensität aus.
## „Make America Great Again“ anno 1939
Einmal mehr arbeitet sich Castorf an der kulturellen Hegemonie Amerikas ab,
zwischen Freiheitsversprechen und Imperialismusverdacht. Eine
Coca-Cola-Reklame koexistiert neben einem Pepsi-Automaten, dem Porträt
eines Mobsters mit Hut und Zigarre, der Umrissdarstellung zweier nach oben
bis fast in den Schnürboden gespreizter Frauenbeine. Plakate werben für den
Massenaufmarsch eines „True Americanism“; „Make America Great Again“ an…
1939. Dann wird es wieder heimisch. Eine rot leuchtende Inschrift zeigt
im Wiener Idiom Freundlichkeiten der digitalen Shitstorms oder des
Ressentiments der Straße: „Umbringen sollt ma Ihnen!“
Hier wächst zusammen, was vielleicht nicht zusammengehört, sich im Gang der
Geschichte aber trifft. [1][Frank Castorf]s Theater spielt mit der
Korrespondenz des Ungleichzeitigen, sprengt in der Kollision von
Widersprüchen Denkvoraussetzungen weg, um Denkräume zu öffnen, wenn der
Rauch sich legt. Nüchternheit war selten so rauschhaft wie in diesen fünf
Stunden.
20 Feb 2024
## LINKS
[1] /Staatsoper-Hamburg/!5958058
## AUTOREN
Uwe Mattheiß
## TAGS
Theater
Burgtheater Wien
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Rechter Populismus
Theater
Buch
Literatur
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