| # taz.de -- 100. Todestag von Henry James: Subtil und ungewöhnlich | |
| > Verborgene Details, selbstbewusste Frauenfiguren: Vor 100 Jahren starb | |
| > Henry James, der große Erneuerer des Romans. | |
| Bild: Anlass zur Neuentdeckung: Am 28. Februar 1916 starb Henry James. | |
| „Wer am Rande der Tanzfläche steht“, schrieb Fernando Pessoa, „tanzt mit | |
| allen.“ Pessoa könnte bei diesem Satz an Henry James gedacht haben: Er ist | |
| der genaue, sezierende, am Rand stehende Beobachter. In einem Brief aus dem | |
| Jahr 1879 formulierte James sein Ideal: „Man kann Figuren über Figuren | |
| erschaffen, ohne Verallgemeinerungen zu beabsichtigen – | |
| Verallgemeinerungen, vor denen ich einen Horror habe. […] – ich bin | |
| übersubtil und analytisch –, und mit Gottes Segen werde ich leben, um alle | |
| Arten von Darstellungen von allen Arten von Gegenständen zu machen.“ | |
| Das Übersubtile und Analytische zeigt sich vor allem an der Zeichnung | |
| seiner Heldinnen: Er schien seismografisch genau zu erfassen, dass sich | |
| unter der Oberfläche der viktorianischen Gesellschaft feine Risse bildeten | |
| und gerade der noch im engen Korsett von Moral und Etikette eingezwängten | |
| Frau in Zukunft eine entscheidende Rolle zukommen könnte. Seine | |
| selbstbewussten Frauenfiguren vor allem sind es, die uns heute beeindrucken | |
| – Isabelle Archer im „Porträt einer jungen Dame“ oder Kate Croy in „Die | |
| Flügel einer Taube“. | |
| Er wollte ihr Wesen, dieses „merkwürdige Mosaik“, psychologisch genau | |
| ergründen. Die junge Catherine Sloper etwa, ein wenig blass um die Nase und | |
| vermeintlich auch blass im Gemüt, verliebt sich in „Washington Square“ aus | |
| dem Jahr 1881 in den gut aussehenden Morris Townsend. Catherine hat den | |
| gewinnenden Vorzug, wohlhabend zu sein. Ihr Vater glaubt, dass dies nicht | |
| der mindeste Grund ist, warum der unsolide Townsend seiner Tochter | |
| stürmisch den Hof macht. | |
| Und er versucht mit allen Mitteln, die sich anbahnende Liaison zu | |
| verhindern. Die ökonomischen Grundlagen bestimmen jeden seiner Schritte in | |
| dieser am Materiellen orientierten Gesellschaft; sie sind die heimliche | |
| Triebfeder aller Handlungen, zumindest aber deren Voraussetzung. | |
| ## Fancywork | |
| Was dann geschieht, ist tatsächlich faszinierend: Weil James es vermeidet, | |
| über die wahren Beweggründe des heiratswilligen Morris aufzuklären, schauen | |
| wir mit wankelmütigen Emotionen dem bemitleidenswerten Schwanken von | |
| Catherine zu – beugt sie sich der väterlichen Autorität, oder vertraut sie | |
| ihren aufrichtigen Gefühlen für den jungen Liebhaber? | |
| Die Auflösung dieses inneren Konflikts ist von solch stolzer Konsequenz, | |
| dass es einem fast das Herz zerreißt. Auf ein bezeichnendes Bild am Ende | |
| des Buches weist die Übersetzerin Bettina Blumenberg hin: „Fancywork heißt | |
| die feine Handarbeit, der Catherine sich zuwendet, und fancywork ist die | |
| Metapher, die Henry James in Briefen und Aufzeichnungen so häufig für seine | |
| Lebensarbeit verwendet, die Mühsal des Schreibens.“ | |
| Fancywork – das steht für ein fein ziseliertes, subtiles Erzählen, für das | |
| Vermögen, ungewöhnliche Perspektiven einzunehmen und verborgene Details | |
| herauszuarbeiten. Um allerdings wirklich einen unverhohlenen Blick auf das | |
| Wesen der Frauen werfen zu können, musste sich James auf gewisse Weise von | |
| ihnen fernhalten. | |
| „Henry James behandelt seine Themen mit den Augen des Forschers, | |
| unbeeinträchtigt von den Gefühlswallungen eines Empathikers“, schreibt | |
| seine Biografin Verena Auffermann. Dass er sich im Sexuellen mehr für | |
| Männer interessierte als für Frauen, darf zudem angenommen werden; ob er | |
| seine Sehnsucht aber jemals auslebte, ist noch immer ein beliebtes | |
| Gossip-Sujet der James-Forschung. | |
| ## Salons der Upperclass | |
| Der Autor blieb jedenfalls zeitlebens allein. Und doch war er immer und | |
| überall Teil der Welt, über die er schrieb – ob er den Salons von Paris | |
| oder New York, London oder Venedig seine Aufwartung machte. Mit Autoren wie | |
| Gustave Flaubert, Iwan Turgenew oder Robert Louis Stevenson verbanden ihn | |
| Freundschaften. Bettina Blumenberg wundert sich zu Recht darüber, wie | |
| dieser Autor so ungemein produktiv sein und 20 Romane sowie unzählige | |
| Erzählungen hinterlassen konnte – Essays und Literaturkritiken noch gar | |
| nicht eingerechnet. „Umso erstaunlicher“, schreibt sie, „dass derselbe Ma… | |
| an nahezu 300 Tagen im Jahr Abendeinladungen gefolgt ist.“ | |
| Für Henry James waren die Einladungen in die Salons der Upperclass | |
| Arbeitsessen und die Protagonisten der großbürgerlichen Welt Objekte seiner | |
| literarischen Feldforschungen. Seine Notizbücher zeugen davon, wie ihm bei | |
| solchen Anlässen Ideen und Dialoge zuflogen, die sich im Lauf eines | |
| kreativen Prozesses in Fiktion verwandelten. James, der Balzac bewunderte, | |
| blieb der außenstehende Gesellschaftsreporter, der er zu Anfang seiner | |
| Karriere in Paris tatsächlich war. | |
| Auch in anderer Hinsicht hielt sich James am Rande des Tanzparketts auf: Er | |
| pendelte zwischen der Alten und der Neuen Welt hin und her. Lange konnte er | |
| sich nicht entscheiden, wo er zu Hause sei. Das ruhelose Bummeln zwischen | |
| zwei Kontinenten war ihm mehr oder minder in die Wiege gelegt: Die Familie | |
| wechselte die Wohnorte wie andere Leute ihre Hemden; Reisen durch Europa | |
| gehörten ebenso zum guten Stil wie die permanente Verschickung der Kinder | |
| in verschiedenste Bildungsinstitute im In- und Ausland. | |
| ## Wild wuchernde Lektürelust | |
| Europa sei zudem das Familienrezept gegen Eigensinn oder unverständliche | |
| Krankheiten gewesen, merkt Hazel Hutchison in ihrer Biografie an. Henry | |
| James senior war ein ehrbarer Mann irischer Abstammung, ein Theologe, dem | |
| es vor allem der Mystiker Swedenborg angetan hatte und der mit der | |
| versammelten intellektuellen Elite Neuenglands auf freundschaftlicher Ebene | |
| verkehrte. James’ älterer Bruder William sollte ein angesehener Philosoph | |
| und Psychologe werden – und bis zuletzt am Werk des Jüngeren herumkritteln. | |
| Dieses literarische Werk entsprang wie bei den meisten Schriftstellern | |
| einer wild wuchernden Lektürelust: James, am 15. April 1843 in New York | |
| geboren, verschlang in jungen Jahren alles, was ihm in die Hände fiel, und | |
| es dauerte nicht lange, bis er sich selbst im Schreiben versuchte. Seine | |
| erste Erzählung erschien inmitten des Amerikanischen Bürgerkriegs – | |
| aufgrund einer Rückenverletzung (die bis heute unter Jamesianern für | |
| Spekulationen sorgt) musste er nicht wie zwei seiner Brüder auf die | |
| Schlachtfelder ziehen. | |
| Nachdem er sein Jurastudium abgebrochen hatte, verdingte er sich als | |
| Korrespondent und Reiseschriftsteller. Er ahnte rasch, dass die Literatur | |
| als Beruf Geschäftstüchtigkeit verlangt, Verhandlungen mit Zeitschriften | |
| und Verlegern, Rücksichtnahme auf die Vorlieben eines vornehmlich | |
| weiblichen Publikums notwendig macht. | |
| Henry James hatte nur wenige Verkaufserfolge – die Erzählung „Daisy Miller… | |
| und die Geistergeschichte „Die Drehung der Schraube“ gehörten dazu. Als | |
| Theaterautor hätte er gerne reüssiert, schon allein um seine Einkünfte | |
| aufzubessern; allerdings scheiterte er gleich mehrfach. Die Ansprüche an | |
| sein eigenes Schreiben wurden mit der Zeit immer höher, und als in seiner | |
| Spätphase die Bücher stilistisch komplexer wurden, arbeitete er zum Ärger | |
| seines Publikums das Frühwerk nach den ästhetischen Maßstäben des reifen | |
| Autors für eine Werkausgabe fundamental um. | |
| Am Ende seines Lebens war Henry James zum Briten geworden und lebte | |
| zurückgezogen in seinem Landhaus in Sussex. Das „internationale Thema“ aber | |
| zieht sich durch viele seiner Romane. In „Die Europäer“ etwa fallen der | |
| Bonvivant Felix und seine Schwester Baronin Eugenia Münster bei ihren | |
| amerikanischen Verwandten ein, die in den 1840er Jahren in der Nähe von | |
| Boston ein redliches, gottesfürchtiges Leben führen. | |
| Es kommt, wie es in einer Komödie kommen muss: Die beiden Europäer wirbeln | |
| alles durcheinander, es wird so fleißig kreuz und quer geheiratet wie in | |
| einer Opera buffa. Hinter den beschwingten Dialogen dieses Kammerspiels | |
| verbirgt sich freilich eine aufschlussreiche Pointe: Die verruchten | |
| Europäer bringen den scheuen Puritanern etwas bei, das sie verlernt zu | |
| haben scheinen – eine Form der Lebenskunst. Die Befremdung weicht zusehends | |
| einer Neugierde, die Neugierde einer ungekannten Offenheit. | |
| Bildungsromane (Goethe war ihm ein Hausgott) paarte der ironische | |
| Melancholiker James mit dem „Marriage Plot“ des viktorianischen Romans und | |
| der Gesellschaftssatire. Je tiefer man eindringt in seine Geschichten, | |
| desto mehr Schichten tun sich darin auf. Henry James, dieser Erneuerer des | |
| Romans, der in dem imposanten Spätwerk „Die Gesandten“ das Mittel des | |
| Bewusstseinsstroms noch vor James Joyce oder Virginia Woolf nutzte, ist ein | |
| Gigant. Nun, zu seinem 100. Todestag, aus dessen Anlass etliche | |
| Neuübersetzungen vorliegen, darf man Rolf Vollmann aus vollem Herzen | |
| zustimmen: „Nichts von ihm wird man ab jetzt versäumen mögen: eine Idee, | |
| die sehr hemmend sein kann für das Leben, das man neben dem Lesen doch auch | |
| noch haben könnte.“ | |
| 28 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Rüdenauer | |
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