| # taz.de -- Festivalchef über migrantische Literatur: „Es ist keine Nische“ | |
| > Queere Stimmen, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus in der | |
| > Literatur hörbar machen: Kadir Özdemir über „Collecting Dreams“ in | |
| > Hannover. | |
| Bild: Will migrantische Autor:innen empowern: Veranstalter Kadir Özdemir steht… | |
| taz: Herr Özdemir, warum braucht Hannover ein Festival für | |
| (post-)migrantische Literatur? | |
| Kadir Özdemir: Der Literaturbetrieb konzentriert sich stark auf Berlin und | |
| dann Hamburg und Köln, wo auch die großen Verlagshäuser angesiedelt sind. | |
| In Hannover, einer wunderschönen und unterschätzten Stadt mit sehr viel | |
| Potenzial, sind bestimmte Dinge nicht so vorhanden. Das Festival findet in | |
| diesem Jahr zum zweiten Mal statt. Natürlich findet auch hier Literatur | |
| statt, wir haben [1][Institutionen wie den Literatursalon und das | |
| Literaturhaus], aber im Bereich postmigrantischer Literatur und | |
| Lebensrealitäten ist in Hannover wenig los gewesen. Und wenn, dann waren | |
| postmigrantische Autor:innen und ihre Realitäten immer ein bisschen das | |
| Randstück. | |
| taz: Und Sie bieten diesen Perspektiven und Autor:innen einen Raum. | |
| Özdemir: Genau. Eigentlich sind wir nicht nur [2][das erste | |
| postmigrantische Literaturfestival in Hannover], sondern in ganz | |
| Niedersachsen. Die Lebensrealitäten, die von Migration, [3][Postmigration] | |
| oder Postkolonialismus geprägt sind, kamen im Literaturbereich in ganz | |
| Niedersachsen nicht vor. Das sagt auch etwas aus über Förderungen, über die | |
| Bereitstellung von Ressourcen. Diesen postmigrantischen Erfahrungen und | |
| ihrer Ästhetik in der Kultur wollten wir einen Raum geben. Das haben wir | |
| letztes Jahr beim ersten Festival mit dem Slogan „Your story matters to all | |
| of us“ in den Fokus gestellt: Es ist keine Nische, es ist nicht nur | |
| Migrationsdebatte. | |
| taz: Dieses Jahr steht das Festival unter dem Motto „Raise your voice: | |
| together“. | |
| Özdemir: Wir sind alle weder [4][von Sylt] noch [5][von Bautzen] noch von | |
| dem [6][„Geheimtreffen“ in Potsdam] überrascht. Wir sind von nichts | |
| wirklich überrascht, aber trotzdem alarmiert. Wir wollten in diesem Jahr | |
| als postmigrantische Realität ganz viele Menschen zusammenbringen, die an | |
| unterschiedlichen Themen arbeiten, aber trotzdem ihre Stimmen gemeinsam | |
| erheben. | |
| taz: Wie sieht das im Rahmen des Festivals aus? | |
| Özdemir: Wir bringen sowohl queere Programmpunkte ein als auch | |
| Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus. Wir wollen nicht, dass diese | |
| Themen als Einzelkämpfe gesehen werden, die parallel laufen, jeder für | |
| sich. Das Festival ist ein Ort – immer im Rahmen der Literatur, von | |
| Sachliteratur bis Lyrik –, bei dem alles beisammen ist. Es ist in diesem | |
| Jahr von dem Gedanken getragen, dass wir gemeinsam protestieren. Und auch | |
| streitbar sind. Das gehört zu einer demokratischen Kultur dazu, auch | |
| anzuecken. | |
| taz: Kommen wir noch einmal zur deutschen Literaturlandschaft. Haben sich | |
| hier in den letzten Jahren nicht viele (post-)migrantische Autor:innen | |
| einen Namen gemacht? | |
| Özdemir: Die großen Würfe von Saša Stanišić, Kübra Gümüşay oder [7][D… | |
| Güçyeter mit seinem Deutschlandmärchen], das vergangenes Jahr den Preis | |
| bei der Leipziger Buchmesse bekommen hat, werden inzwischen auch gesehen. | |
| Sie tauchen aber eher als Stars auf und werden auch immer als | |
| erfolgreiche:r Autor:in eingeladen. In vielen Debatten tauchen wir nur | |
| ästhetisch oder dekorativ auf. Man muss aufpassen, dass nicht einzeln kurz | |
| Vielfalt vorgezeigt wird, ohne dass es eine Einbindung gibt und Vielfalt | |
| auch in den Strukturen geschaffen wird. | |
| taz: Es geht also um Repräsentanz? | |
| Özdemir: Einerseits sind wir weiterhin bei Weitem nicht unserem | |
| Bevölkerungsanteil gemäß repräsentiert, dann geht es aber auch nicht nur um | |
| konkrete Positionen, sondern etwa auch um Titel. Wer wird überhaupt ernst | |
| genommen? Wenn eine junge Person of Colour von sich behauptet, | |
| Schriftsteller:in zu sein, wird das anders ernst genommen oder gar | |
| belächelt. Es geht also nicht nur um Repräsentanz. | |
| taz: Sondern? | |
| Özdemir: Wir wollen auch versuchen, das zu verankern und uns als | |
| Akteur:innen verstehen. Das schafft auch ein Empowerment. Das wollen wir | |
| auch mit dem Festival schaffen: Innerhalb der Literaturlandschaft der Stadt | |
| unseren Narrativen und Perspektiven eine eigene Würdigung geben. Gerade | |
| viele postmigrantische Schreiber:innen haben Schwierigkeiten, sich als | |
| Autor:innen zu bezeichnen. | |
| taz: Woran liegt das? | |
| Özdemir: Weil damit noch ein elitäres Gehabe verbunden wird, sodass sie | |
| sich die Identitätsbildung hin zu „Ich bin Schriftsteller:in“ nicht | |
| zutrauen. Wir wollen aber sagen, wenn du eine Stimme hast – und du hast | |
| eine Stimme – und du schreibst und drückst dich schreibend aus, dann bist | |
| du Schriftsteller:in. Ob du schon veröffentlicht hast oder nicht. Du | |
| brauchst keine Bestätigung von irgendeiner weißen Struktur, um das für dich | |
| zu beanspruchen. | |
| 13 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!6031148/ | |
| [2] https://collectingdreamsfestival.de/ | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Postmigrantische_Gesellschaft | |
| [4] /Lamour-toujours/!6026486 | |
| [5] /Bautzen-und-die-Frage-worauf-es-ankommt/!6028030 | |
| [6] /Kritik-zu-Correctiv-Recherche/!6024934 | |
| [7] /Leipziger-Buchpreis-fuer-Dincer-Guecyeter/!5930997 | |
| ## AUTOREN | |
| Jonas Kähler | |
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