# taz.de -- Nachwuchs-Wettbewerb Open Mike in Berlin: Je hermetischer desto bes… | |
> Prosa und Lyrik kommen sich nahe, und die Außenwelt wirkt in den Texten | |
> wie ausgeknipst. Der Open Mike spiegelte Tendenzen der | |
> Gegenwartsliteratur. | |
Bild: Die Gewinner*innen beim Open Mike v.l.n.r.: Kameliya Taneva, Ade Ajayi, M… | |
Der Open Mike ist in Gefahr. Schon in diesem Jahr wurde der wichtigste | |
Nachwuchs-Lesewettbewerb des Landes auf einen Tag und nur noch zwölf Texte | |
zusammengekürzt, beides in etwa eine Halbierung im [1][Vergleich mit den | |
vergangenen Jahren.] Die Gelder sind knapp. | |
Und sie werden absehbar knapper. Im nächsten Jahr könnten die | |
[2][Spardrohungen des Berliner Senats] das Aus bedeuten. Zwischen den | |
Lesungen sammelte das (Social-)Media-Team Video-Statements zur | |
Unterstützung. | |
Veranstaltungsort für den Open Mike ist nicht das Haus der Poesie in der | |
Kulturbrauerei im poshen Prenzlauer Berg, das die Veranstaltung | |
organisiert, sondern der Heimathafen Neukölln in der von arabischen, | |
türkischen, internationalen Läden und Restaurants gesäumten | |
Karl-Marx-Straße. | |
Die Bio Company gleich gegenüber ist das einzige auf den ersten Blick | |
erkennbar Gentrifizierungs-Signal. Der Heimathafen, ein Kulturraum vor | |
allem, aber nicht nur für Theater, ist etwas von der Straße zurückgezogen | |
gelegen, ein schmaler Hausdurchgang öffnet sich in eine eigene Welt. | |
Die Lesungen beginnen mittags um zwölf. Der Eintritt ist frei, der Saal ist | |
recht voll. Das Publikum vorwiegend jung, studentisch, Menschen aus | |
Verlagslektoraten, Menschen von Schreibschulen, die Zeitschrift Bella | |
Triste vom [3][Institut in Hildesheim] hat einen Stand. Der Open Mike ist | |
ein Pflichttermin im Betrieb. Viele, die hier gewannen und lasen, sind | |
heute bekannt. Viele natürlich auch nicht. | |
## Martina Hefter wählte aus | |
500 Einsendungen gab es, die Vorauswahl trafen schon Etablierte wie der | |
Kiwi-Lektor Moritz Müller-Schwefe oder die in diesem Jahr mit dem Deutschen | |
Buchpreis beglückte Martina Hefter. Sie stellen in kurzen Intros die von | |
ihnen Ausgewählten lobpreisend vor. Nicht immer lösen die Texte dann ein, | |
was der Lobpreis versprach. | |
Die Fenster sind abgedunkelt, als ob man sich von der Außenwelt abschotten | |
wolle. Die Lichtstimmung ist dämmrig und rot. Das Format ist die | |
Wasserglaslesung, die Ersten sitzen alle am Tisch, später stehen auch | |
welche am Pult. 15 Minuten, dann bimmelt eine gottesdienstartige, | |
freundliche Glocke. Die Hälfte sind lyrische Texte, die andere Hälfte ist | |
Prosa. | |
Nominell jedenfalls. Die Zuordnung ist keineswegs in allen Fällen | |
eindeutig, die Übergänge vom einen zum andern erweisen sich als ganz und | |
gar gleitend. Wer aktuelle Dramatik kennt, wird feststellen: Es verhält | |
sich hier ähnlich. Die literarischen Gattungen sind einander sehr | |
nahegekommen. | |
Lyrisch sind weite Teile der Prosa: Zusammenhänge werden oft eher | |
suggeriert als expliziert. Auf der einen Seite sprachliche Verdichtung. Auf | |
der anderen hängt viel in der Luft. Wirklich konventionell durcherzählt | |
eigentlich nur ein einziger Text. Eser Aktay schneidet in „Das Segensmahl“ | |
von einer Begegnung zweier Männern im Club mit folgender Liebesnacht direkt | |
zurück in das türkische Dorf, aus dem seine Vorfahren stammen und in dem | |
nun die Großmutter starb. | |
## Türkische Wörter als bewusste Fremdkörper | |
Erzählt wird dabei kein harter Konflikt, nur die schleichende | |
innerfamiliäre Entfremdung. Es ist ein Text, in dem die türkischen Wörter | |
und Sätze bewusste Fremdkörper sind, umso bewusster, als der Ich-Erzähler | |
die Sprache der Eltern nicht mehr als eigene Sprache begreift. | |
Nur konsequent, dass Aktays gut gemachter Text den (einzigen) Preis der | |
Jury in der Kategorie Prosa erhielt. Die taz-Publikumsjury wählte Muri | |
Duridas „Neue Leichen braucht das Land“, eher szenische als narrative | |
Prosa, die das Schießen von Bildern und das Schießen von Waffen zugleich | |
sehr nahe und unklar das eine neben das andere rückt. | |
Der Rest des Erwähnenswerten war Lyrik. Nichts davon, sicher zum Leidwesen | |
anwesender Lektorate, irgend verkäuflich. Preise gab es für Ade Ajayi, der | |
in seinem mehr riskanten als gelungenen „A Euclidian View of Berlin as a | |
cool place to be“ expressionistische Bilder mit literarischen Andeutungen – | |
von Camus’ „Fremdem“ Meursault bis „Rückkehr nach Reims“ – spieler… | |
schroff zugleich in ein ungeordnetes Nebeneinander sortierte. Und für Lea | |
Luna Winzelys sprachlich nicht durchweg geglückten „Baba“, in dem ein Ich | |
das Verhältnis zum an Krebs erkrankten Vater umkreist. | |
Der Eindruck täuscht nicht: alles sehr privat, vieles hermetisch. | |
Abgedunkelt, abgeschirmt. Die Welt als größeres Ganzes, das politische | |
Klima als immer bedrängenderer Zusammenhang, selbst das Internet: All das | |
höchstens am Rande, die nichtprivate Wirklichkeit wie ausgeknipst. Trauma- | |
und Gewalterfahrungen nur in Mikroskopien ganz nah am eigenen | |
(Sprach-)Körper. | |
## Wurzelbehandlung der Sprache | |
Vielleicht nur konsequent, dass die beiden literarisch gelungensten Texte | |
auch die hermetischsten waren: Liv Thastums ungeheuer melodische | |
Wurzelbehandlung der deutschen und dänischen Sprache („da so am | |
krustengrund“), bei der einem jedes Verstehen zugunsten von Pun, Klang und | |
Rhythmus vergeht. | |
Und Kameliya Tanevas „wir sammeln geliehene samen“: ein Text, der sich in | |
die Tierwelt begibt, in Wahrheit aber äußerst gekonnt in der Sprache, ihre | |
Assonanzen, in das Wortmaterial und daraus geborene Bilder verliert. Eine | |
avantgardistische Regression. Und offenbar ist genau das der Stand der | |
Dinge. | |
11 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Open-Mike-in-Berlin/!5971630 | |
[2] /Kuerzungen-im-Kulturhaushalt/!6037067 | |
[3] /Junge-Literatur-bei-der-Prosanova/!5040491 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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