# taz.de -- Neuer Roman von Jonathan Franzen: Gut sein geht halt nicht | |
> „Die Korrekturen“ des Autors Jonathan Franzen wurde als Rückkehr des | |
> Erzählens gefeiert. Sein Roman „Crossroads“ zeigt nun, er treibt es zu | |
> weit. | |
Bild: Nichts wird angedeutet, alles wird ausbuchstabiert: Jonathan Franzen | |
Als Jonathan Franzen [1][2001 seinen Welterfolg „Die Korrekturen“ | |
veröffentlichte], war das für ihn, aber auch für das Publikum, Ausdruck | |
einer Befreiung. Die „Rückkehr des Erzählens“ hatte gerade ihren | |
triumphalen Siegeszug angetreten, und man wollte sich nicht mehr durch das | |
verkrampfte poetologische Händeringen der modernistischen Hohepriester | |
quälen lassen, durch trockene Experimente und anstrengende Meta-Fiktionen. | |
Franzen schrieb damals einen langen Essay über seine Konversion vom | |
strengen Ästhet, der schwere, kritische Bücher schreiben wollte, zu einem | |
Autor, der sich vor allem den Leser*innen und ihren Bedürfnissen | |
verpflichtet fühlte. | |
Diese Konversion vollzog sich nicht zufällig parallel zum Aufstieg des | |
sogenannten „Quality TV“, von Serien wie [2][„Sopranos“] oder „[3][The | |
Wire]“, die ebenfalls für ihre Freude am Erzählen gelobt wurden: endlich | |
wieder Figuren, die zu Identifikation einluden, endlich wieder eine | |
spannende Handlung. Es wurden begeisterte Vergleiche zum Roman des 19. | |
Jahrhunderts gezogen, als wäre die Moderne eine Art Mittelalter des | |
Erzählens gewesen, das nun endlich überwunden sei. | |
Franzens neues Buch, „Crossroads“, betreibt in dieser Hinsicht eine | |
Eskalation, die zeigt, dass man es mit der „Rückkehr des Erzählens“ | |
vielleicht etwas zu weit getrieben hat. Während Franzen sich vor zwanzig | |
Jahren mühsam zum Erzählen durchringen musste, kann er jetzt überhaupt | |
nicht mehr aufhören zu erzählen. Das schlägt sich zunächst im Umfang | |
nieder. „Crossroads“ kommt in der deutschen Übersetzung auf über 800 | |
Seiten, und es soll nur der erste Teil einer Trilogie sein, die sich mit | |
dem Leben der Familie Hildebrandt beschäftigt. | |
Dieser erste Band spielt in den 1970er Jahren in einem Vorort von Chicago. | |
Der Vater der Familie, Russ, ist Pfarrer einer örtlichen Gemeinde. Er | |
leidet unter dem für die Zeit charakteristischen Generationenkonflikt, denn | |
er wurde von dem hippen Gemeindemitarbeiter Rick Ambrose aus der | |
Jugendgruppe „Crossroads“ vertrieben, die dem Roman ihren Titel gibt. | |
Zudem befindet er sich in einer Midlife-Crisis, die vor allem darin zum | |
Ausdruck kommt, dass er seine Frau Marion nicht mehr begehrenswert findet | |
und nach der schönen Witwe Frances Contrell giert. Marion wiederum kämpft | |
mit den Spätfolgen einer Gewalterfahrung in ihrer Jugend, die sie selbst | |
vor Russ geheimgehalten hat. Die Tochter Becky verzehrt sich nach dem | |
örtlichen Mädchenschwarm, der ältere Sohn Clem verzehrt sich nach seiner | |
Freundin Sharon, und der jüngere hochbegabte Sohn Perry verzehrt sich nach | |
Drogen. | |
## Probleme und Problemchen | |
Franzens Figuren haben die konventionellen Probleme und Problemchen, die | |
Figuren in einem realistischen Roman, der für seine Fabulierlust gelobt | |
werden möchte, ebenso haben. Jede Figur bekommt ein zerstörerisches | |
Hauptbedürfnis, das im Konflikt mit übergeordneten ethischen Bedürfnissen | |
steht. Diese Konflikte erscheinen inzwischen allerdings – nach Jahrzehnten | |
dieser Art des Erzählens und nach hunderten Staffeln „Quality TV“ – | |
ziemlich erschöpft. | |
Welche bürgerliche Ehe ist nicht von Krisen zerfressen, welche Pubertät | |
nicht qualvoll? Wer denkt nicht manchmal, er könnte mit jemand anderem | |
schlafen als mit der Partner*in? Wer fragt sich nicht, ob er ein paar Kilo | |
abnehmen sollte? Die Probleme sind natürlich nicht verschwunden, im | |
Gegenteil, aber auf der Ebene des literarischen Erzählens sind sie | |
vielleicht langsam auserzählt. Man könnte sagen, dass das Erbe Tolstois auf | |
eine Art an sein Ende gekommen ist. Jede unglückliche Familie ist | |
inzwischen auf dieselbe Weise unglücklich, zumindest in der realistischen | |
Prosa. | |
Das hält Franzen aber nicht davon ab, gerade in diesem Roman alle Ansprüche | |
an erzählerische Ökonomie zu verabschieden. Nichts wird angedeutet, alles | |
wird ausbuchstabiert. Das gilt vor allem für den grundsätzlichen Konflikt | |
des Gutseinwollens, das sich immer wieder – eine Spezialität von Franzen – | |
selbst als egoistisch erweist. Echter Altruismus ist unmöglich, weil jede | |
gute Tat bereits dem Bedürfnis entspringt, besser zu sein als die eigenen | |
Mitmenschen. | |
Der Unterschied zu Franzens früheren Romanen ist, dass die Figuren das in | |
„Crossroads“ selbst ahnen und dementsprechend ständig darüber nachdenken | |
oder sich darüber unterhalten. Das klingt dann so: „Aber an Marion hatte er | |
auszusetzen, dass sie dick und freudlos war, ihn langweilte, ihm den | |
Schneid nahm. Er wusste nicht, wie er das sagen sollte, ohne wie ein | |
Mistkerl zu klingen.“ | |
## Ein oft naiver Ton | |
Diese ständigen Schleifen der Selbstbezichtigung führen dazu, dass viele | |
Dinge doppelt und dreifach erzählt werden. Erst im Vollzug, dann im | |
Nachdenken darüber und dann noch einmal in einem dramatischen Gespräch. | |
Insbesondere die Dialoge wirken ausgewalzt und nervtötend. Ein seltsamer | |
Mangel an narrativer Sparsamkeit erzeugt einen oft naiven Ton: „Ich weiß, | |
dass du wütend bist. Ich weiß, dass ich was Schlimmes getan habe. Aber wir | |
lieben Tanner beide –“ „Ach, wirklich. Du liebst ihn.“ „Ich – glaube | |
schon.“ „Na, ist das nicht herzallerliebst.“ | |
Ein Streit etwa zwischen Clem und seinem Vater über die Entscheidung des | |
Sohnes, als Soldat nach Vietnam zu gehen, zieht sich über acht Seiten. Die | |
Dinge, die sich beide an den Kopf werfen, wurden allerdings vorher bereits | |
in verschiedenen Reflexionspassagen breitgetreten. Der Roman ist voll von | |
solchen unproduktiven Wiederholungen. Kurz nach dem quälenden Gespräch | |
zwischen Vater und Sohn folgt ein noch längeres Gespräch zwischen Russ und | |
seinem Konkurrenten Rick Ambrose, und mit sinkendem Herzen wird einem klar, | |
dass bald ein weiteres Gespräch zwischen Becky und ihrer Konkurrentin Laura | |
Dombrowski stattfinden wird. | |
Dieser unbändige Drang, alles zu besprechen, und das meistens im Modus des | |
gegenseitigen Anschreiens, soll wohl auch eine satirische Analogie zum | |
überspannten Empfindsamkeitsdiskurs zeitgenössischer Millennials eröffnen. | |
Dieses Vorhaben misslingt allerdings, da der Roman das Ärgernis | |
reproduziert, über das er sich lustig machen will. | |
## Seltsam gestelzt | |
Auch auf der stilistischen Ebene scheint sich Franzen von den Fesseln der | |
ästhetischen Ökonomie befreit zu haben. Die Prosa wirkt unkontrolliert und | |
seltsam gestelzt. Ein Beispiel: „Bis zum gestrigen Abend hatte sie | |
Knutschgelage zur Kategorie nicht obligatorischer Tätigkeiten gezählt.“ Das | |
überschreitet, wie diese repräsentative Passage zeigt, oft die Grenze zum | |
reinen Kitsch: „Als er sich schließlich von ihr losriss, mit dem | |
Versprechen, sie am nächsten Tag anzurufen, war der Gedanke an Vietnam von | |
der Süße ihres Mundes, dem einladenden Duft ihrer Haut, der kühnen kleinen | |
Zunge, die sich zwischen seine Lippen geschoben hatte, ja der großen | |
Überraschung von alldem verbannt worden.“ | |
Die deutsche Übersetzung hätte hier gegensteuern müssen, verstärkt | |
allerdings eher den seltsam technokratischen Satzbau und die altmodisch | |
wirkende Umständlichkeit. Dazu kommt die ärgerliche Konvention, in die | |
Übersetzungen amerikanischer Romane eine erfunden klingende Jugendsprache | |
einfließen zu lassen. Da ist dann die Rede von „seinen Alten“, der | |
„Schnecke irgendeines Sportlers“, der „Königin der Schnösis“, es wird | |
angebaggert, jemandem wird etwas verklickert, im Bus wird gepennt, Menschen | |
sagen Dinge wie: „Tut mir leid, Herzblatt“ oder „Mannomann“. | |
Besonders frappierend wirkt dieser entfesselte Stil in der Darstellung von | |
Sexualität. Die Menschen in diesem Roman sind auf eine unangenehm | |
aufrichtige Art von Sex besessen. Da der Roman in einem religiösen Umfeld | |
in den 1970er Jahren spielt, ist das durch die Handlung auch teilweise | |
begründet. Allerdings entschuldigt das nicht die Fremdscham, die bei Sätzen | |
wie diesem ausgelöst wird: „Clem verweilte, um seine Zunge so weit wie | |
möglich in sie hineinzuschieben, zu schmecken, was sein Penis nicht | |
schmecken konnte, und richtete sich dann auf, um ihr in die Augen zu | |
schauen.“ | |
„Crossroads“ entwickelt durch die Anhäufung melodramatischer Konflikte | |
streckenweise durchaus den erzählerischen Sog, den man sich von dieser Art | |
von Roman erhofft. Allerdings steht das Buch wie kaum ein anderes in | |
letzter Zeit auch stellvertretend für einen Überdruss an Konventionen des | |
realistischen Erzählens, dessen Rückkehr langsam vielleicht einmal | |
abgeschlossen sein sollte. | |
20 Oct 2021 | |
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Johannes Franzen | |
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