# taz.de -- Politik und Philosophie: Adorno, die Disruption und die Brandmauer | |
> Haben wir die Einsichten der Kritischen Theorie für zu selbstverständlich | |
> genommen? Die „Erziehung zur Mündigkeit“ zur Bundestagswahl neu gelesen. | |
Bild: Adorno bei einem Vortrag in Rom. Im Hintergrund: Gewaltverhältnisse | |
Der „Besinnungslosigkeit ist entgegenzuarbeiten, die Menschen sind davon | |
abzubringen, ohne Reflexion auf sich selbst nach außen zu schlagen. | |
Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer | |
Selbstreflexion.“ | |
Diese Sätze stehen am Beginn eines Abschnittes, an den man zurzeit erinnern | |
sollte – zumal nach einem unbefriedigenden Wahlkampf, der zunächst viele | |
anstehende Sachthemen unter einer hektischen Migrationsdebatte begrub, | |
einen zwischendurch an der Brandmauer zweifeln ließ und schließlich, mit | |
dem Schrecken über die US-Appeasementpolitik gegenüber Putin und den | |
sonstigen schlimmen Entwicklungen in den USA im Rücken hochtourig | |
ausdümpelte. | |
## Mündigkeit und Selbstreflexion | |
Der Eindruck ist: Das große Ganze hat der Wahlkampf gar nicht erst berührt. | |
Klima. Krieg. Zerfall der Achse USA-Europa. Hinzu kommt: Hat man es denn | |
überhaupt für möglich gehalten, dass die Maxime, dass Erziehung und Bildung | |
Mündigkeit und Selbstreflexion als Ziel haben müssen, wieder zur | |
Disposition steht? Sie tut es aber. In den USA werden der Aufklärung | |
verpflichtete Bücher aus Bibliotheken verbannt, und Donald Trump selbst | |
schwingt sich zum Chef des kulturell wichtigen Kennedy-Centers auf. | |
In Deutschland schreibt die AfD etwas von „Leitkultur“ und „Brauchtum“ … | |
ihr Wahlprogramm, setzt die Wendung „Ein Volk ohne Nationalgefühl kann auf | |
die Dauer nicht bestehen“ dazu und ist damit kulturpolitisch in manchen | |
Teilen unseres Landes längst ein wichtiger Player geworden. | |
Und Russland muss man im Hinblick auf kritische Selbstreflexion | |
realistischerweise erst einmal ganz aufgeben. Mehr noch: Russland tut | |
alles, um den Westen zu destabilisieren und dabei Mündigkeit und | |
Selbstreflexion zu diskreditieren. Und die Politik debattiert über | |
Migration? | |
Das einleitende Zitat dieses Textes stammt von Theodor W. Adorno, der | |
Philosoph schrieb diese Sätze vor bald sechzig Jahren, 1966, in dem Band | |
„Erziehung zur Mündigkeit“. Der Band enthält Vorträge und Radiogespräche | |
und war lange Zeit ein großer Verkaufserfolg. 2020 hatte er die 28. Auflage | |
erreicht. | |
## Adorno und die Kritische Theorie | |
Zwischendurch ist Adorno aber auch irgendwie uncool geworden, vielleicht | |
auch deshalb, weil man die Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik, | |
an der die Kritische Theorie, für die Adorno steht, großen Anteil hat, | |
[1][für zu selbstverständlich genommen] und sich über den von ihr | |
ausgehenden kritischen Gestus sogar ironisch lustig gemacht hat. | |
Die Idee war zunächst jedenfalls, den Band als Klassiker zu lesen und damit | |
als Werkzeug, um etwas Abstand zur Gegenwart zu gewinnen. Die Leseerfahrung | |
war dann aber: Angesichts der gegenwärtigen Lage leuchten manche Aspekte | |
dieses Denkens längst wieder erschreckend hell auf. | |
In dem Band denkt Adorno darüber nach, was Erziehung leisten muss, damit | |
sich Auschwitz und die Shoah nicht wiederholen. [2][Er setzt auf | |
Aufklärung.] „Man muss die Mechanismen erkennen, die die Menschen so | |
machen, dass sie solcher Taten fähig werden, muss ihnen selbst diese | |
Mechanismen aufzeigen“, schreibt er. | |
Klassische Sätze – die aber ein Stück weit an der Gegenwart vorbeizielen. | |
Denn genau das ist in den zwei Generationen, seitdem sie geschrieben | |
wurden, ja geschehen. Ganze Bibliotheken sind über die Mechanismen, die | |
nach Auschwitz führten, geschrieben worden. Man kann also nicht mehr davon | |
ausgehen, dass Bewusstmachung allein es richten wird. | |
## Gegenwart, Fake News und Ablenkungskampagnen | |
Die Auseinandersetzungen der Gegenwart gehen eher darum, dass das | |
eigentlich Gewusste bewusst ignoriert und sogar mit Fake News und | |
Ablenkungskampagnen entlang von Triggerpunkten bewusst bekämpft wird. Dem | |
ist entgegenzuarbeiten. | |
Ins Herz der Gegenwart zielt aber der darauf folgende Abschnitt. In ihm | |
umreißt Adorno, wie tief Aufklärung in dieser Sache gehen muss. Mit | |
rationaler Pädagogik allein ist es nämlich nicht getan. Adorno schreibt | |
hier von der „Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt“ und | |
von einem „Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch | |
vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang“. Er bewertet | |
dieses Gefühl des Eingesperrtseins erst einmal auch gar nicht. Er kann es | |
sogar nachempfinden. | |
Diese Stelle fängt geradezu hektisch zu blinken an, wenn man sie auf die | |
Fantasien bezieht, die mit der Idee der Disruption aus den USA | |
herüberdrücken und bei der man den Eindruck gewinnen musste, dass sich auch | |
hierzulande neoliberale, neokonservative und mittlerweile auch neurechte | |
Kräfte auf sie einigen und über sie miteinander verbünden könnten. | |
Friedrich Merz hat sich, nachdem er die Brandmauer durchlöchert hatte, | |
zuletzt zwar einigermaßen glaubwürdig von der AfD distanziert. Aber die | |
Fantasien sind im gesellschaftlichen Raum und arbeiten weiter. | |
## Heilsversprechen in der Politik | |
Schließlich geht es rund um disruptive Politik keineswegs nur um eine | |
Absenkung der Staatsquote – über die sich sicherlich kontrovers, aber auf | |
jeden Fall in geordneten politischen Bahnen diskutieren ließe. Vielmehr ist | |
dieses politische Konzept, ausgehend von grellen Statements von Donald | |
Trump und Elon Musk, auch hierzulande teilweise mit überschießenden | |
Befreiungsfantasien, geradezu mit Heilsversprechen aufgeladen. | |
An diesem Punkt kommt Adorno ins Spiel. Klaustrophobie in der verwalteten | |
Welt – genau! Die Disruptiven dieser Welt würden es vielleicht anders | |
formulieren und eher von Zwang und Notwehr sprechen, aber eigentlich können | |
sie sich an dieser Stelle zunächst abgeholt fühlen. | |
An der Stelle schreibt Adorno weiter: „Je dichter das Netz, desto mehr will | |
man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, dass man herauskann.“ Und | |
im nächsten Satz: „Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. | |
Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt.“ | |
## „Unbehagen in der Kultur“ | |
Das doppelte „man“ in dem ersten Satz und die Passivkonstruktion im zweiten | |
sind interessant; sie sind bewusst gewählt. Adorno bezieht die Aussage auf | |
alle Menschen; dass die Gesellschaft Wut erzeugt, erkennt er an – im | |
Hintergrund steht Sigmund Freuds These vom „Unbehagen in der Kultur“ –, | |
doch „man“ heißt eben noch nicht Subjekt, etwas Unbewusstes, Getriebenes | |
ist da in der Wutbearbeitung noch drin. Und gegen Gewalttätigkeit hat | |
Adorno dann natürlich etwas. Gegen Irrationalität erst recht. | |
Denn: „Ein Schema, das in der Geschichte aller Verfolgungen sich bestätigt | |
hat, ist, dass die Wut gegen die Schwachen sich richtet, vor allem gegen | |
die, welche man gesellschaftlich schwach und zugleich – mit Recht oder | |
Unrecht – als glücklich empfindet.“ Adorno hat hier natürlich | |
Antisemitismus im Sinn. | |
Wie man gegenwärtig in aller Deutlichkeit aus den USA und teilweise auch | |
aus Deutschland erfahren muss, lässt sich medial kanalisierte Wut aber auch | |
für Rassismus, Antifeminismus, Hass auf Queers und Klassenkampf von oben | |
ausbeuten. Das ist der Punkt, an dem einen eine mögliche Koalition von | |
Neoliberalismus und neuen Rechten – vielleicht noch nicht unter Merz, aber | |
wer weiß, vielleicht nach ihm – so erschrecken muss. | |
## Die Suche nach Sündenböcken | |
Wut – „man“ – Suche nach Sündenböcken: Dieses Schema, das Adorno | |
intellektuell bekämpfte, wäre dann wieder da, und das auch noch verbunden | |
mit Affekten gegen das Allgemeine und der Zertrümmerung von | |
gesellschaftlichen Institutionen. Trump und Musk machen es vor; | |
vordergründig haben sie den Staat als Feind, tatsächlich aber nehmen sie | |
längst die Zivilgesellschaft als Ganze ins Visier. | |
Ein allgemeingültiges Rezept, wie der Besinnungslosigkeit | |
entgegenzuarbeiten ist, bietet Adornos Band nicht. Sein Denken ist in | |
manchem auch zeitgebunden. Eine Resilienz (wie wir heute sagen würden) kann | |
er sich individuell nur als „Festigkeit des Ich“ vorstellen – da gibt es | |
durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit durch Internet und soziale | |
Medien mit ihren immensen Manipulationsmöglichkeiten neue | |
Herausforderungen, von denen Adorno noch nicht wissen konnte. | |
Immerhin ist nach der Lektüre dieses Bandes klar, dass Ruckreden und | |
Appelle an den Einzelnen nicht reichen werden. Vielmehr muss die | |
Gesellschaft insgesamt so eingerichtet sein, dass sie „das Besondere und | |
Einzelne samt seiner Widerstandskraft“ (Adorno) ermöglicht. | |
## Kritische Selbstreflexion | |
Mit diesem Setzen auf das Besondere gegen das herrschende Allgemeine ist | |
Adorno für kritische Diskurse gegenwärtig immerhin so anschlussfähig wie | |
mit seinem Hinweis auf die immense Bedeutung kritischer Selbstreflexion. | |
Wird es sie – unter den, gelinde gesagt, derzeit ungünstigen | |
weltpolitischen Voraussetzungen – nach der Wahl im politischen System | |
geben? Hoffen darf man, doch wetten würde man darauf nicht. | |
Was es aber gibt, ist eine Zivilgesellschaft, in die, wie die großen „Wir | |
sind die Brandmauer“-Demonstrationen gezeigt haben, viele Gedanken Adornos | |
diffundiert sind. Subjekt werden, Ausgang aus [3][selbstverschuldeter | |
Unmündigkeit] – die ewige Aufgabe. Hinter Adorno darf die Gesellschaft | |
nicht zurückfallen, auch wenn die Netze, aus denen man nicht herauskann, | |
wie sie in den USA und Russland gerade geknüpft werden, sehr dicht sind. | |
25 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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