| # taz.de -- Philosoph Kant im Dialog: Im Namen des moralischen Gesetzes | |
| > Der Philosoph Omri Boehm erhält in Leipzig den Buchpreis für Europäische | |
| > Verständigung. Mit Daniel Kehlmann spricht er, in Buchform, über Kant. | |
| Bild: Das Gespräch pflegte einst auch Immanuel Kant, wie hier in Emil Doerstli… | |
| Das Erscheinungsdatum ist günstig gewählt. Am 22. April steht der 300. | |
| Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant an, und dem Philosophen Omri | |
| Boehm, einem Kenner Kants, wird am Mittwoch auf der Leipziger Buchmesse der | |
| Buchpreis für Europäische Verständigung verliehen. | |
| Da das Werk, das den Anlass für die Ehrung bot, [1][Boehms „Radikaler | |
| Universalismus“], ein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf Kant zur | |
| Überwindung von Identitätspolitik, schon zwei Jahre alt ist, hat sein | |
| Verlag Propyläen pünktlich eine doppelt anlassgerechte Lösung gefunden: | |
| einen Gesprächsband, in dem sich der Geehrte Boehm mit dem | |
| [2][Schriftsteller Daniel Kehlmann] über den Jubilar austauscht. | |
| „Der bestirnte Himmel über mir“ ist betitelt nach einem berühmten Zitat a… | |
| Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, einem seiner Hauptwerke. Zustande | |
| kam das Gespräch auf Vorschlag des Verlags, der Boehm und Kehlmann | |
| Gelegenheit gab, sich zwei Tage lang miteinander zu unterhalten. | |
| Dass Kehlmann der Dialogpartner Boehms ist, hat seine Gründe. Unter anderem | |
| den, dass Kehlmann selbst Philosophie studierte und schon eine Dissertation | |
| über den Begriff des Erhabenen bei Kant begonnen hatte, als ihm seine | |
| Karriere als Schriftsteller dazwischenkam. Immerhin verschaffte er Kant in | |
| seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ dann einen tragikomischen Auftritt. | |
| Kehlmann gibt sich im Vorwort zugleich als Fan von Boehms „Radikaler | |
| Universalismus“ zu erkennen. Das Buch habe ihm einen Kant gezeigt, der | |
| nichts von dem angestaubten Pedanten habe, auf den Kant im öffentlichen | |
| Gedächtnis oft reduziert werde. Statt als Verfasser umständlicher Sätze mit | |
| dem Charme eines Verwaltungsbeamten sei ihm Kant hier als „aufregend“ | |
| begegnet. Kein schlechtes Kompliment für einen Denker, dessen Schriften im | |
| Zeichen der Vernunft stehen. | |
| ## Kant und KI | |
| Nun kommt, wenn Philosophen ein repräsentatives Alter vorzuweisen haben, | |
| fast zwanghaft die Frage auf: Was hat er uns heute noch zu sagen? Darauf | |
| könnte man prinzipiell antworten: dasselbe wie zu Lebzeiten. Man könnte | |
| schließlich auch umgekehrt an die Sache herangehen und aktuell fragen: Was | |
| hat die Gegenwart eigentlich Kant zu sagen? | |
| Kehlmann führt dazu als Kritiker von „Würdigungen“ den Philosophen Theodor | |
| W. Adorno ins Feld. Dieser nahm seinerzeit den 125. Todestag Hegels zum | |
| Anlass, um zum Thema zu bemerken: Eine Würdigung „meldet den unverschämten | |
| Anspruch an, daß, wer das fragwürdige Glück besitzt, später zu leben, und | |
| wer berufsmäßig mit dem befaßt ist, über den er zu reden hat, darum auch | |
| souverän dem Toten seine Stelle zuweisen und damit gewissermaßen über ihn | |
| sich stellen dürfe. In den abscheulichen Fragen, was an Kant und nun auch | |
| an Hegel der Gegenwart etwas bedeute […], klingt diese Anmaßung mit.“ | |
| Von dieser Anmaßung sind Boehm und Kehlmann weit entfernt. Sie verständigen | |
| sich über Kant aus der Perspektive zweier leidenschaftlicher Kant-Leser. | |
| Dass Kehlmann mehr Fragen stellt und Boehm in der Regel längere | |
| Redebeiträge liefert, ist dem Umstand geschuldet, dass Boehm „berufsmäßig�… | |
| mehr mit Kant befasst ist. Doch ist Kehlmann keinesfalls der | |
| Stichwortgeber, der Austausch erfolgt auf Augenhöhe. | |
| Da sie aus historischem Abstand sprechen, bringen sie Denkerinnen und | |
| Denker ins Spiel, die nach Kant kamen, von Friedrich Nietzsche bis Hannah | |
| Arendt, und deren Beiträge sie nicht ausnahmslos als Fortschritt im Denken | |
| charakterisieren, besonders bei Nietzsche nicht. Ebenso richten sie nicht | |
| ausschließlich Fragen an Kants Schriften, sondern stellen diese ganz | |
| selbstverständlich in heutige Zusammenhänge. Etwa wenn Kehlmann zum | |
| Verhältnis von Kunst und Künstlicher Intelligenz anmerkt, dass aus | |
| kantischer Sicht „das, was Kunst ist, eben genau das ist, was ein | |
| Algorithmus nicht hervorbringen kann.“ | |
| ## Korrekturen an Kant | |
| Vielen der vorgebrachten Gedanken im Buch kann man bei ihrem Entstehen | |
| folgen. Ein Einwand etwa wird schon mal im zweiten Anlauf einer Antwort | |
| korrigiert. Überhaupt hat der Verlag mit der Dialogform mehr als eine | |
| lediglich praktische Lösung gewählt, bei der man nicht warten musste, bis | |
| Omri Boehm ein neues Buch geschrieben hat. | |
| Denn so knüpfen Boehm und Kehlmann, formal zumindest, an die Tradition der | |
| Schriften des antiken Philosophen Platon an. Der entwickelte seine Ideen in | |
| der Regel in Dialogen des Sokrates mit wechselnden Gesprächspartnern, | |
| wenngleich meistens in didaktischer Absicht. Boehm und Kehlmann wirken | |
| nicht in dieser Weise „geskriptet“. Auch heiklen Fragen stellen sie sich | |
| ausdrücklich. | |
| Dass man an Kant mittlerweile Aspekte kritisiert, die seinen Zeitgenossen | |
| weniger stark aufgestoßen sein mögen, nehmen Boehm und Kehlmann nicht bloß | |
| zur Kenntnis, sie reiben sich mitunter kräftig an Aussagen des berühmten | |
| Vertreters der Aufklärung. Dieser erhob immerhin das Selbstdenken zum | |
| Maßstab der Aufklärung, und zu seiner Ethik gehört der zentrale Gedanke, | |
| dass man Menschen stets als „Zweck an sich“ und nie bloß als „Mittel“ | |
| behandeln sollte, dass man sie, grob gesagt, nicht instrumentalisieren | |
| darf. | |
| Dieser Kant schrieb in seiner „Anthropologie“ gleichwohl Sätze, die | |
| rassistisch sind. Was zu Kritik an Kant und der Aufklärung geführt hat, mit | |
| dem Fazit, dass an beiden nicht viel dran sein kann, wenn sie solche | |
| Aussagen einschließen. | |
| Boehm und Kehlmann bestreiten den Rassismus Kants an keiner Stelle. Ihre | |
| Antwort lautet jedoch nicht, dass man Kant deshalb rundheraus ablehnen | |
| sollte, sondern dass diese Aussagen seiner „unwürdig“ sind. Sie sehen diese | |
| Sätze im Widerspruch zu Kants fundamentalen Aussagen über Ethik und | |
| Menschen. So bestritt Kant, dass es verschiedene Arten von Menschen gibt. | |
| Auch wandte er sich explizit gegen die Sklaverei. | |
| ## Widerspruch als Denkfigur | |
| Dass sich in Kants Werk derlei Unstimmigkeiten finden lassen, passt zu | |
| einem Begriff, den er in seiner „Kritik der reinen Vernunft“, seinem | |
| erkenntnistheoretischen Hauptwerk, geprägt hat: der Antinomie. Boehm | |
| beschreibt diese Denkfigur als einen Weg, Widersprüchliches zu denken. Die | |
| Widersprüche werden dabei nicht aufgelöst, man legt sich vielmehr über ihre | |
| Unauflösbarkeit Rechenschaft ab. Ein solches Beispiel scheint Kant mit | |
| seinen rassistischen Bemerkungen selbst abzugeben. Klar zu seinem Nachteil, | |
| aber ohne ihm damit einen Totalschaden attestieren zu müssen. | |
| In „Der bestirnte Himmel über mir“ macht sich eine sehr gegenwärtige | |
| Begeisterung der beiden für Kant bemerkbar, die sich beim Lesen immer | |
| wieder überträgt. Gleichwohl sei nicht verschwiegen, dass sie eher ein | |
| Gelehrtengespräch führen, als dass sie eine laienfreundliche Handreichung | |
| zum sachgemäßen Gebrauch von Kant bieten würden, was für Kantunkundige ein | |
| Hindernis darstellen mag. Manchen Überlegungen lässt sich ohne Vorwissen | |
| wenig bis gar nicht folgen. Möglich, dass dies immer noch genügt, um | |
| Neugier auf Kant zu wecken. | |
| Trotz der Länge des Buchs hätte man sich manches dennoch ausführlicher | |
| gewünscht. Die Bemerkungen zu Kants Theorie des „radikalen Bösen“ zum | |
| Beispiel, die Boehm als „ziemlich undurchsichtig“ abtut. Womöglich stört | |
| ihn die Vorstellung, dass man sich laut Kant frei gegen das Gute | |
| entscheiden kann. Für Boehms Interpretation von Kants Freiheitsbegriff | |
| bringt das ein paar Schwierigkeiten mit sich. Denn frei zu sein heißt laut | |
| Boehm „dasselbe wie moralisch zu handeln“. Was, so formuliert, übermäßig | |
| verkürzt ist. | |
| Wichtiger als das Handeln selbst ist bei Kant die Selbstverpflichtung auf | |
| das „moralische Gesetz“, die dem Handeln zugrunde liegende Haltung. Dass | |
| Kant die Möglichkeit einräumt, sich bei der eigenen Haltung gegen das | |
| moralische Gesetz als Pflicht zu entscheiden und lieber aus eigennützigen | |
| Motiven zu handeln, erscheint jedenfalls kein Ding der Undenkbarkeit. | |
| Ebenso wenig sei verschwiegen, dass Boehm seine Deutung von Kants | |
| Universalismus, nach dem Freiheit als „absolute Pflicht“ für alle Menschen | |
| gilt, schon mal heranzieht, um eine [3][„binationale“ Lösung für den Staat | |
| Israel] vorzuschlagen. Doch das ist eine andere Geschichte und geht nicht | |
| auf das Konto Kants. | |
| 17 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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