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# taz.de -- Was ist moralischer Fortschritt?: Die arrogante Selbstgewissheit de…
> Was ist moralischer Fortschritt und wie lässt er sich messen? Der
> amerikanische Philosoph Thomas Nagel versucht sich an Antworten.
Bild: Globale Ungerechtigkeit: Der Meeresspiegel steigt Jahr für Jahr und viel…
Fledermäuse schreien, um sich zurechtzufinden. Mit Ultraschall navigieren
sie durch die Dunkelheit. Sie orten ihre Umwelt per Echo. Wie orientieren
sich Menschen im ebenso finsteren, moralischen Raum? Schon vor [1][Immanuel
Kant] war klar, dass man nicht mit einem Grundkurs Ethik im Gepäck durch
den Alltag eilen kann. Der Ultraschall für Entscheidungen heißt, wenn man
den schottischen Philosophen des 18. Jahrhunderts glauben will: moralischer
Sinn.
Mit einem Aufsatz über Fledermäuse ist der amerikanische Philosoph Thomas
Nagel berühmt geworden. Vor zwei Jahren hat er ein neues Buch vorgelegt,
das jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist: „Moralische Gefühle,
moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt“. Das Buch – eigentlich
ein Büchlein – ist länger gereift: Es besteht aus zwei Aufsätzen, die
wiederum auf Vorträgen und Diskussionen an verschiedenen Orten beruhen.
Und da beginnt schon das Problem: Dem Publikum werden Navigationsdaten aus
der Zeit vor der Trump-Wahl angeboten. Wer damit losfliegt, landet
schmerzhaft in einer Realität, die weniger fortschrittsgewiss ist, als es
sich Nagel 2015 vorstellen konnte. An kurzfristigen Diagnosen ist er
allerdings auch gar nicht interessiert.
## Die Suche nach dem „Überlegungsgleichgewicht“
Mit dem Buch kehrt der fast 90-jährige Philosoph stattdessen zu seinen
Anfängen zurück: Begonnen hat sein akademischer Weg mit einer Doktorarbeit
über den Altruismus, betreut von John Rawls. Was also ist moralischer
Fortschritt und wie lässt er sich messen? Zwei Klippen sucht das Büchlein
zu umschiffen: zum einen die arrogante Selbstgewissheit einer Gegenwart,
die alles Vergangene nach den aktuellen Maßstäben beurteilen will; zum
anderen die Beliebigkeit eines historischen Relativismus, der nach der
Devise „Andere Zeiten, andere Sitten“ verfährt und nichts als die
jeweiligen zeitgenössischen Normen gelten lassen will. Als Lösung bietet
Nagel die fortgesetzte Suche nach einem „Überlegungsgleichgewicht“ an. Man
hört den philosophischen Zungenschlag seines akademischen Lehrers.
Was ist ein gutes Argument in moralischen Angelegenheiten? Nagel ruft noch
einmal die klassischen Schauplätze der Moralphilosophie auf, wie man sie
aus dem 18. Jahrhundert kennt. Welche Rolle spielen dabei moralische
Intuitionen, gesamtgesellschaftliche Nutzenkalküle oder allgemein
verbindliche Regeln und Pflichten? Nagel spielt alle drei philosophischen
Karten – und argumentiert, man könne auf keine davon verzichten. Darauf
fußen seine Überlegungen zum moralischen Fortschritt.
Nagel unterscheidet zwei Szenarien. Moralischer Fortschritt kann darin
bestehen, dass moralische Gründe, die längst bekannt waren, sich mit der
Zeit durchsetzen. Die Abschaffung der modernen Sklaverei wäre ein Beispiel
dafür. Moralischer Fortschritt kann aber auch in neuen Gründen und
Überlegungen liegen, etwa wenn Institutionen und Gesellschaften sich
verändern und mit ihnen die Denkweisen. Bei der antiken Sklaverei stellt
sich, laut Nagel, die Frage, ob sie historisch bereits als Unrecht erkannt
wurde (Nagel tendiert zum Ja) – oder als unvermeidliches Unglück bewertet
wurde.
## Manche moralischen Gleichgewichte sind labil
Je konkreter das Buch zum Ende hin wird, umso unheimlicher wird die
Lektüre. Rechtsstaatlichkeit, soziale Gleichheit, [2][sexuelle Freiheit],
globale Gerechtigkeit – das sind die vier Bereiche, an denen Nagel den
moralischen Fortschritt nachzeichnet. Im Kontrast mit der amerikanischen
Gegenwart zeigt sich überdeutlich, wie labil manche moralischen
Gleichgewichte sind.
Nur eine Fußnote im Buch gilt dem moralischen Niedergang. Nagel, der als
Kind einer jüdischen Flüchtlingsfamilie 1937 in Belgrad geboren wurde und
später in die USA emigrierte, hat dabei historische Konstellationen vor
Augen, die er selbst erlebt hat. Moralische Wahrheiten und moralische
Gründe bleiben gültig, argumentiert er, solange sie erinnert werden. Erst
wenn es „zu einem katastrophalen Verlust des kulturellen Gedächtnisses und
einem Abstieg in die Barbarei kommen“ würde, sähe das aus
moralphilosophischer Perspektive anders aus. Es lohnt sich, Thomas Nagel zu
lesen, um zu prüfen, wie weit unsere moralische Ortung reicht.
30 Apr 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Hendrikje Schauer
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Moral
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GNS
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Demokratie
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