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# taz.de -- Buch über politische Philosophie: Nicht bloß eine Frage des Glaub…
> Demokratie in Bedrängnis: Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt
> rekonstruiert die philosophisch-politische Diskussion um sie seit der
> Antike.
Bild: Thoams von Aquin, Bertha von Suttner und Immanuel Kant (von links nach re…
Die Welt als Wille und Vorstellung. Bei [1][Volker Gerhardts] neuestem Werk
fühlt man sich an Arthur Schopenhauers Klassiker von 1844 erinnert.
Weltweit ist die Demokratie unter Beschuss: Diktatoren bauen sie zur
„illiberalen“ um, Rechtspopulisten blasen zum Sturm auf ihre Institutionen.
Inmitten ihrer bislang schwersten Bewährungsprobe hält der Seniorprofessor
für Philosophie der Humboldt-Universität in seinem Band mit dem Motto
dagegen: Man muss fest an sie glauben.
Nicht, dass Gerhardt die Gefährdung dieser Herrschaftsform nicht sähe.
Angesichts der Umweltkatastrophe spekuliert er, „dass die Menschheit als
Gattung ein Ende findet“. Den „Vorboten neuen Unheils“ will er aber „mit
einer weit in die Geschichte der Politik zurückgehenden Aufklärung“
begegnen.
Gerhardt verfolgt also die Ideengeschichte der Demokratie von ihren
Anfängen bei Xenophanes, Demokrit, Herodot über Platon, Aristoteles und
Kant bis zur amerikanischen Verfassung von 1787. Den Schriften des
Kirchenlehrers Thomas von Aquin entlehnt er die Idee vom Menschen als
Exempel der Menschheit. Von daher erklärt sich sein Schluss, „dass die
Demokratie die politische Form der Menschheit ist“.
## Kulturalismus statt Materialismus
Gerhardt arbeitet die für ihn konstitutiven Prinzipien von Demokratie
heraus: Partizipation, Repräsentation und Konstitution; Pluralität und
Publizität; Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz; schließlich die
Tugenden von Wahrheit, Moral und die (Selbst-)Erziehung der Bürger:innen.
So gelehrt und informativ dieser Überblick daherkommt, im Kern ist
Gerhardts Werk eine Programmschrift des Reformismus. Das beweist seine
militante Abgrenzung von [2][Karl Marx]. Gleich zu Beginn wirft er dem
ungeliebten Demokratietheoretiker eine ökonomistische Verkürzung des
politischen Denkens vor. Gerhardt will den Materialisten gleichsam
kulturalistisch konterkarieren, so wie er die „affektive und kulturelle
Weltaneignung“, „kulturelle Leistungen“ und künstlerische Potenzen“ al…
eigentlichen Triebkräfte der Menschheitsgeschichte ins Feld führt.
Das wäre als Idee super interessant, wenn er nicht glaubte, sie mit einem
grotesken Zerrbild von Marx als Freiheitsgegner und Gewaltapostel
beglaubigen zu müssen – weil der im „Kommunistischen Manifest“ die Formel
„gewaltsamer Umsturz“ führt. Bei Gerhardt führt quasi eine gedankliche
Linie von Marx zur RAF.
Zur „Evolution der Demokratie“ setzt er stattdessen mit Kant auf
Gewaltverzicht und „schrittweise Veränderung“. Nach dieser Logik hätte
Fidel Castro 1953 auf Kuba mit dem Diktator Fulgencio Batista einen
Reformdialog beginnen müssen. Vor einem ähnlichen Dilemma steht die
israelische Demokratiebewegung derzeit. Sie will gewaltfrei bleiben, muss
aber auch eine politische Vehemenz entwickeln.
## Bewusstsein des Kollektivs
Für ein Mitglied der Grundwertekommission der SPD muten auch andere von
Gerhardts Maximen kurios an. Kollektive etwa besitzen kein reflektiertes
Bewusstsein im Sinne des homo politicus, wie er ihn in seinem Buch
entwickelt. Doch wenn „nur Individuen, nur einzelne Menschen als politische
Akteure angesehen werden können“, wäre der Aufstieg der Arbeiterbewegung am
Ende des 19. Jahrhunderts schwer zu erklären.
Es gibt in Segmenten der linken politischen Theorie eine gewisse
Geringschätzung des Individuums im politischen Prozess. So apodiktisch wie
Gerhardt seine These formuliert, klingt sie freilich wie die reformistische
Variante von Margaret Thatchers „There is no such thing as society“.
Gerhardt beherrscht durchaus eine fruchtbare Dialektik, etwa wenn er die
„Konjunktion von Universalität und Individualität“ mit dem schönen
Vergleich erklärt, dass die Fähigkeit des einzelnen Menschen zur Erkenntnis
immer auf das Allgemeine, Generelle zielt.
Ähnliche Reflexionen zum Spannungsverhältnis von Individualität und
Kollektivität stellt der Philosoph aber nicht an. Konzepte wie Basis- oder
Rätedemokratie kommen nicht einmal als Begriff vor, ebenso wenig zitiert er
außereuropäische Beiträge zur Philosophie der Demokratie.
## Frau und Klasse
Von 60 im Personenregister zitierten Referenzen ist sage und schreibe eine
weiblich: Bertha von Suttner. [3][Hannah Arendt] sucht man vergebens. Bei
diesem Philosophen wirkt Demokratie wie ein Monopol weißer Männer aus dem
Abendland.
Gerhardts Credo einer zur „Humanität verpflichteten Republik“, einer
„rechtlich verfassten Demokratie“ und sein Bekenntnis zur Weltgesellschaft
in allen Ehren. Es sind aber diese Leerstellen, die bei der Lektüre
Ratlosigkeit hinterlassen.
Schwierig ist auch des Autors Hang zum philosophischen Idealtypus fernab
jeder sozialökonomischen Grundierung von Demokratie. Der Begriff Klasse
kommt bei Gerhardt so gut wie nie vor. Deswegen hängt sein
Demokratiebegriff oft wie ein abgehobenes Konstrukt im historisch
luftleeren Raum.
Kein Wunder, dass der Philosoph zur Abwehr der Demokratiefeinde auf die
idealistische Losung setzt, „die Hoffnung nicht aufzugeben“ und „ein
vernünftiges Wesen zu sein“. Bei ihm ist ihre Rettung – Wille und
Vorstellung eben.
10 Jun 2023
## LINKS
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[2] /Karl-Marx-Ausstellung-in-Trier/!5500676
[3] /Hannah-Arendt-Ausstellung-in-Berlin/!5681502
## AUTOREN
Ingo Arend
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Politik
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