# taz.de -- Volker Gerhardt über Öffentlichkeit: Der Einzelne und die Vielen | |
> Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt hat mit seinem neuen Buch ein | |
> hochaktuelles Thema aufgegriffen: die politische Form des Bewusstseins. | |
Bild: Eine Demo in Spanien: Was ermöglicht uns die politische Willensäußerun… | |
Was verstehen wir unter „gesellschaftlicher Öffentlichkeit“? Gibt es sie in | |
Europa wirklich erst seit dem siegreichen Kampf des Bürgertums gegen den | |
Adel? Zwei Fragen, denen Volker Gerhardt in seinem neuen Buch | |
„Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins“ nachgeht – eine | |
sowohl systematisch wie historisch durchgeführte Untersuchung des Begriffs | |
Öffentlichkeit. | |
Der Berliner Philosoph Volker Gebhardt beschreibt das Öffentliche als | |
„bereits im Ursprung der bewussten Tätigkeit eines jeden Einzelnen sich | |
öffnende Dimension“, die den Blick auf den Anderen und das Andere öffnet. | |
Das Bewusstsein des einzelnen Menschen ist, so Gerhardt, „die erste und | |
elementare Form der Öffentlichkeit“, bei der jeder Einzelne „gleichermaßen | |
bei sich selbst und bei allen Anderen ist“. | |
Jedes Reden und jede Zeichen setzende Handlung ist Mitteilung, die im | |
politischen Raum prinzipiell verständlich und überprüfbar sein muss. | |
Individualität und Universalität sind somit „komplementäre, der polaren | |
Einheit von privater und öffentlicher Sphäre angemessene Begriffe“. | |
## Andere Kulturtechniken | |
War Cicero ein Anwalt der Tugenden, die den öffentlichen Belangen des | |
Staates nützen, so zeichnet sich die Verfassung der griechischen Poleis | |
durch die Betonung des Privaten – des Hauses – aus. Gerhardt zitiert die | |
Rede des Perikles von 431 v. Chr. und verweist auf Vorläufer in den | |
altorientalischen Kulturen. | |
Im Kapitel „Res publica. Die Kultivierung des öffentlichen Raums“ werden | |
die Schrift und andere Kulturtechniken in ihrer Bedeutung für die | |
Öffentlichkeit mit den sich wandelnden Formen vom späten Rom bis in die | |
frühe Neuzeit vorgestellt. Augustinus, Dante, Erasmus von Rotterdam, | |
Ficino, Machiavelli - sie alle sind mit ihren unterschiedlichen | |
Interpretationen des Öffentlichen präsent. | |
Eine „weltgeschichtliche Innovation des Christentums“ nennt Gerhardt die | |
Verbindung von Individualität und Universalität in der Offenbarung, „die | |
allen Menschen die Aussicht auf das Heil eröffnet – und dies dadurch, dass | |
Gott zu einem singulären Menschen wird, der für alle Menschen stirbt“. | |
Kontraproduktiv dazu waren die Machtansprüche der römischen Kirche, die zu | |
einer Verfassung nach Analogie weltlicher autokratischer Herrschaft | |
führten. | |
## Rationales Denken und Handeln | |
Immer da, wo Werke aus Kunst und Wissenschaft Wirkung auf ein | |
Einzelbewusstsein haben, entsteht der Wunsch nach Mitteilung und | |
Kommunikation. Den schwierigen Begriff „Geist“ reserviert Gerhardt für die | |
menschliche Fähigkeit, etwas im Zusammenhang zu erkennen und zu beurteilen. | |
Es gibt die gesellschaftlichen und politischen Ganzheiten, aber auch das | |
Ganze, bei dem sich der Einzelne in seinem Bewusstsein mit dem Bewusstsein | |
aller anderen Menschen verbunden weiß. Die Vernunft dagegen setzt Zwecke, | |
die den Einzelnen zu einem rationalen Denken und Handeln motivieren sollen. | |
Die gesellschaftliche Form von Öffentlichkeit, die den anthropologisch | |
argumentierenden Autor interessiert, ist die politische Form, die ein | |
gemeinsames Handeln Aller ermöglicht. Damit steht Gerhardt in Opposition zu | |
Jürgen Habermas, für den "kritische Öffentlichkeit" nur das Ergebnis eines | |
auf Gründe verpflichteten und nach Regeln ablaufenden Diskurses sein kann. | |
Kommunikationsflüsse werden „so gefiltert und synthetisiert“, dass sie sich | |
zu „öffentlichen Meinungen verdichten“. | |
Volker Gerhardt dagegen erklärt Partizipation zum grundlegenden Prinzip der | |
Politik. „Es überführt die Selbstbestimmung von Einzelnen in die | |
Mitbestimmung von Vielen, so dass die Aktivität der Gemeinschaft als deren | |
Selbstbestimmung begriffen werden kann.“ Eine spannende Lektüre zu einem | |
hochaktuellen Thema. | |
Volker Gerhardt: „Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins“. | |
C.H. Beck, München 2012, 582 S., 39,95 Euro | |
29 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Hoffmann | |
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