# taz.de -- Philosophin über Care-Arbeit: „Es bleibt ein schlüpfriger Rest�… | |
> Was meinen wir eigentlich genau, wenn wir von Care-Arbeit sprechen? Die | |
> Philosophin Cornelia Klinger über Klassenverhältnisse und Lebenssorge. | |
Bild: Abwasch oder Hautpflege? | |
taz: Frau Klinger, seit der Pandemie sprechen wir immer wieder von einer | |
Care-Krise. Sehen Sie diese Krise auch? | |
Cornelia Klinger: Pflegeaufgaben hat es immer gegeben, und diese Art von | |
informeller Arbeit bleibt seit jeher an den Frauen hängen. Ich würde | |
deshalb sagen, Krise war immer. | |
Wäre es nicht sinnvoller, von Reproduktionsarbeit anstatt von Care zu | |
sprechen? Um Arbeitsverhältnisse nicht auszublenden? | |
Ich verwende lieber den Begriff der Lebenssorge. Reproduktion wirkt wie ein | |
Anhängsel von Produktion. Und „Re-“ wird auch leicht mit Unproduktivität … | |
Verbindung gebracht. Der Begriff ist erklärungsbedürftig und deshalb nicht | |
gut. Care hat ab den 1980er Jahren den Begriff der Reproduktion | |
beiseitegeschoben. Das war zunächst einmal positiv, weil er eigenständig | |
ist. Im englischsprachigen Umfeld ist Care alternativlos. Mir erscheint der | |
Sorgebegriff im deutschsprachigen Raum aber vielfältiger, differenzierter | |
und zutreffender als der zernudelte Care-Begriff, der sich in Car-Care, | |
Skincare, Eyecare oder schlicht Customer Care ins Beliebige aufgelöst hat. | |
Lebenssorge statt Sorgearbeit – warum ist Ihnen genau diese Bezeichnung | |
wichtig? | |
Ich möchte betonen, dass Sorge sehr viel mehr ist als Arbeit. Es ist ein | |
Habitus, eine Haltung und Einstellung. Sorge hört auch nicht auf, wenn die | |
Arbeit zu Ende ist. Sie sorgen sich um Sachen, die Sie nicht ändern können, | |
die Ihnen Kummer bereiten. Wenn Sie etwa an den Begriff der Seelsorge | |
denken, dann ist das – ohne Kirche in Betracht zu ziehen – in etwa das, was | |
ich mit dem Lebenssorgebegriff zum Ausdruck bringen will. | |
Sie unterscheiden zwischen für sich selbst sorgen und für andere sorgen. | |
Inwiefern? | |
Wir kommen nicht als selbstständige, handelnde und leistungsfähige Personen | |
auf die Welt, die sofort ans Fließband gestellt werden oder übers Fließband | |
befehlen können. Wir bedürfen erst einmal der Sorge anderer, die sich um | |
uns kümmern. Das Ziel der Pflege und Erziehung durch andere Menschen ist | |
unsere Selbstständigkeit. Wenn wir die erlangt haben, haben wir | |
Verantwortung zu übernehmen für andere, bekommen Kinder oder sind für | |
unsere alten Menschen zuständig. Und so dreht sich gewissermaßen der | |
Kreislauf im Leben weiter vom Versorgtwerden zum Für-sich-selbst-Sorgen, um | |
für andere sorgen zu können, bis wir am Ende des Lebens auch wieder von | |
anderen abhängig sein werden. | |
Immer mehr Menschen sprechen zwar über Care, gleichzeitig beobachten wir | |
eine zunehmende Privatisierung von Care-Arbeit. | |
Seit den 2000er Jahren ist das Sorgen für alle, die nicht für sich selbst | |
sorgen können, in den öffentlichen Fokus gerückt. Nicht zuletzt durch | |
Veränderungen in den Versicherungssystemen ist Sorge zum Geschäft geworden. | |
Hinzu kommt die Verwissenschaftlichung des Sorgewissens und die | |
Technologisierung der Lebenssorge. | |
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel? | |
In meinem Haus gibt es eine Psychotherapiepraxis für Kinder. Die wird von | |
einigen Frauen geführt, die das übernehmen, was früher in der Familie recht | |
oder schlecht abgehandelt wurde. Damit sind einerseits Familien von diesen | |
Pflichten entlastet, die Leistung wird quantifiziert und besser | |
qualifiziert, aber gleichzeitig strukturiert sich die Lebensaufgabe | |
Kindererziehung um. | |
Ist es das, was Sie an anderer Stelle mit der „Vercareung“ aller | |
Wirtschaftszweige gemeint haben? | |
Ja. Care-Aspekte dringen in Industrien ein, in denen wir Vermittlung | |
brauchen. Denken Sie an Computertechnik, das kann niemand mehr alleine. Wir | |
brauchen immer mehr erklärende, vermittelnde Instanzen. Je höher diese | |
angesiedelt sind, desto mehr Wissen ist nötig. Die Teilung in schlecht | |
bezahlte Hands-on-Jobs geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Auf dem Weg in | |
die Wissensgesellschaft wird immer mehr formales Wissen gebraucht, oft auf | |
der Grundlage einer akademischen Ausbildung mit überprüften Qualifikationen | |
und Abschlüssen. Sie benötigen Ingenieurwissen, technisches Know-how, um | |
ablesen zu können, was da auf der Herz-Lungen-Maschine steht. Die | |
Verhältnisse werden komplizierter, wenn das, was da bearbeitet wird, kein | |
Ding ist, sondern ein anderer Mensch. Das ist ein Unterschied ums Ganze. | |
Einige haben von der Humanisierung und Emotionalisierung der neoliberalen | |
Wirtschaft gesprochen, Prozesse, mit denen die Menschen in Unternehmer | |
ihrer selbst verwandelt werden. Was heißt das für die konkrete | |
Fürsorgearbeit, wird sie dadurch letztlich unsichtbar? | |
Das ist richtig. Je weiter diese Arbeit auf das Niveau von Ingenieur- oder | |
Fachwissen gehoben wird, desto sichtbarer wird sie. Aber es bleibt ein | |
schlüpfriger Rest im Dunkeln. Alles, was mit dem Leben von Lebewesen zu tun | |
hat, hat jenen schlüpfrigen Rest, den die Arbeit an Dingen nicht hat. | |
Natürlich verrotten auch Autos und Motoren stinken. Aber der Gestank von | |
Lebewesen ist nicht nur unangenehmer, sondern problematischer. Diese Arbeit | |
wird ausgeblendet, weil sie mit unseren eigenen dunklen Ecken zu tun hat, | |
mit Gebürtlichkeit und Sterblichkeit, mit Generativität und Sexualität. Ich | |
würde zur halbdunklen, informellen Lebenssorgearbeit übrigens auch | |
Pornografie und Prostitution rechnen. | |
Wo kollidieren Lebenssorge als bezahlte Arbeit und Kapitalismus? | |
Die Frage ist, ob das Leben von Menschen profitabel gemacht werden kann. | |
Ich glaube, da verzocken wir uns. Ja, solange die menschliche Arbeitskraft | |
vermachtet und vermarktet wird, kann und soll auch Sorgearbeit – gut – | |
bezahlt werden. Aber die Sache geht schief, wenn Profit zum einzigen Motiv | |
der Lebenstätigkeit wird. Dieses Leben, das so ins Einzelne geht, und das | |
so am Einzelnen hängt, das gepflegt und versorgt werden muss, das können | |
wir der ökonomischen Rationalität nicht unterwerfen. Und jetzt ist die | |
Frage: Ändern wir unsere Rationalität so, dass sie für unser Leben passt? | |
Oder ändern wir unser Leben so, dass es in die rationalen Prozesse von | |
Markt und Staat passt? | |
Es stimmt, die patriarchale Grundstruktur ist nie aufgeknackt worden. Wie | |
würde man da denn rauskommen? Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen in | |
der Hoffnung, dass dann alle Menschen ihr Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit | |
und Lebenssorge besser austarieren können? | |
Diese Fragen muss ich den Ökonominnen und den Sozialwissenschaftlerinnen | |
überlassen. Meine Befürchtung wäre, dass die ganzen gut gemeinten Reformen | |
nichts ändern werden, wenn sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtstruktur | |
nicht verändert. Forderungen nach ein bisschen mehr Lohn – diese | |
Vertariflichung von Arbeit hat nicht zur Veränderung von | |
Klassenverhältnissen geführt. Solange die Logik der kapitalistischen | |
Ökonomie und der nationalstaatlichen Rahmung nicht verändert ist, sehe ich | |
keinen richtigen Ausweg. Die sogenannte Humanisierung des Kapitalismus | |
durch kleine Schritte hat wenig gebracht. Die Schere gesellschaftlicher | |
Ungleichheit geht immer weiter auf. | |
Selbstsorge ist in unserer Gesellschaft ausschließlich positiv konnotiert. | |
Gibt es gewissermaßen eine Aufforderung zur Sorge? | |
Selbstsorge ist eine Systemerfordernis und dafür wird geworben. Bei mir um | |
die Ecke heißt ein Fahrradladen Ego Movement. Und es gibt so viele | |
Zeitschriften, besonders die an weibliche Kundschaft gerichteten, die mit | |
dem Ich werben: Tu dir was Gutes, kauf dir dies und kauf dir das. Solange | |
Sie kaufen können, sind Sie auf diesem Egotrip geradezu umstellt von | |
Angeboten. Was übrigens für einen versagenden Kapitalismus spricht. Die | |
kriegen ihre Produkte, die sie relativ leicht erzeugen, nicht mehr an Mann | |
oder Frau. Sie werben sich zu Tode, weils nicht mehr klappt. | |
Einige Soziologinnen sprechen von einem sogenannten Community-Kapitalismus, | |
um zu zeigen, wie neuerdings weniger die Einzelnen als Verkäufer ihrer | |
selbst, sondern die zivilgesellschaftlichen Selbsthilfepotenziale | |
adressiert werden. Unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit und unentlohnte | |
Fürsorgetätigkeiten werden nun zu Ressourcen für die Bewältigung der | |
Reproduktionskrise. | |
Fast könnte ich eine Grenze auf wenige Jahre genau angeben. Nach 2010 ist | |
das gekippt: Vom adult worker model, das hieß: bezahlte Arbeit für alle, | |
zum adult carer model, das allen gar nicht oder geringfügig bezahlte | |
Sorgearbeit aufbürdet. Und 2013 wurden in Deutschland die gesetzlichen | |
Grundlagen des „Ehrenamtes“ den veränderten Zielen angepasst. Seit der | |
Neoliberalismus in der Finanzkrise baden gegangen ist, erleben wir | |
teilweise einen Rückschwung von der Hegemonie der Ökonomie zur Politik. Da | |
zur „intakten Familie“ mit unbezahlter Frauenarbeit kein Weg zurückführt, | |
muss anderswo nach Wohltätigkeit gesucht werden. | |
Im Herbst erscheint Ihr Buch „Die andere Seite der Liebe“ zum Thema | |
Lebenssorge. Was ist die andere Seite? | |
Das Gegenteil von Liebe ist Hass. Und mit Ambivalenzen zwischen Liebe und | |
Hass hat Sorge tatsächlich zu tun. Wenns gut geht, wird Sorge zu Liebe. | |
Wenn es schlecht läuft, dann ist Sorge ein Verhältnis von wechselseitiger | |
Abhängigkeit, das von allen Seiten gehasst werden kann. Ich hasse meine | |
Mama, weil sie mir ständig vorschreibt, was ich zu tun habe, und meine Mama | |
hasst mich, weil sie jetzt gern mal allein ausgehen würde. Eine | |
Vergesellschaftlichung von Lebenssorgeaufgaben dämpft das ab und regelt das | |
durch eine rationale Beziehung. Gegenüber den fast feudalen privaten | |
Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Geschlechtern und Generationen hat das | |
durchaus Vorteile. Und um diese Verhältnisse und die Veränderungen, die sie | |
gegenwärtig erfahren, geht es in dem Buch. | |
Die französische Philosophin Elsa Dorlin nutzt den Begriff der dirty care. | |
Bei ihr ist dirty care eine Form von Überlebensschutz, Selbstverteidigung. | |
Ich interessiere mich für das Verhalten von anderen und tue ihnen proaktiv | |
Gutes, damit mir keine Gewalt widerfährt. | |
Ich weiß nicht, ob ich dirty care so eng mit Schutz vor Gewalt verbinden | |
würde. Aber um den Tausch Schutz gegen Dienst ging es bei den | |
traditionellen Care-Verhältnissen allemal. Das Bedürfnis von Frauen nach | |
Schutz durch ‚vermögende‘ Männer basierte allerdings auch auf einem Mangel | |
an Alternativen. So denkt auch manche Frau heute – oder sollte ich sagen, | |
heute wieder – im Sinne von rational choice: Lieber einen reichen Mann | |
heiraten und einen ordentlichen Haushalt führen, in dem ich meine | |
überwiegend weiblichen Domestiken habe, als selbst hart arbeiten zu müssen | |
und noch mehr ausgebeutet zu werden. | |
Sie meinen zum Beispiel private Haushaltshilfen? | |
Ja, die Differenzen nach Klasse und Ethnie beziehungsweise Migration | |
spielen in den Sorgeverhältnissen eine wichtige Rolle. Lassen Sie es mich | |
selbstkritisch ausdrücken: Ich erinnere mich an eine Kollegin, mit der ich | |
zusammen studiert habe. An dem Lehrstuhl, an dem wir schon lange als | |
Studentinnen und Hilfskräfte gearbeitet hatten, wurden wir Assistentinnen. | |
An diesem Punkt haben wir einander gefragt: Und, was ist das erste, was du | |
dir von deinem selbst verdienten Geld kaufst? Die Antwort war | |
übereinstimmend: eine Putzfrau. | |
Und Sie hatten kein schlechtes Gewissen? | |
Nein. Working women don’t have wives – arbeitende Frauen haben eben keine | |
Ehefrauen zu Hause. Individuell ist eine Putzfrau wenigstens halbwegs ein | |
Ausweg aus the double shift, der doppelten Bürde von Erwerbs- und | |
Hausarbeit, der Frauen weltweit behindert. | |
8 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
Tania Martini | |
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