| # taz.de -- Stückentwicklung mit Passionsmusik: Ein Potpourri des Elends | |
| > Im Theater Bremen hat Alize Zandwijk triste Szenen zu Bachs | |
| > Matthäuspassion entwickelt. Die Produktion „Erbarmen“ gleitet leider in | |
| > Kitsch ab. | |
| Bild: Wie schön. Noch sitzen alle trübe im Wald, aber schon keimt die Hoffnung | |
| Tja nun. Wer Bach mag, wird nicht richtig warm werden mit dem Abend. Wer | |
| Bach hasst, wird damit nichts anfangen können. Und wer sich für Johann | |
| Sebastian Bach interessiert, [1][also wissen will,] was sich mit dem alten | |
| Zeug herstellen lässt, wie es, aufgebrochen und durch radikale | |
| Interventionen übermalt, neu zu klingen vermag – kommt auch nicht auf | |
| seinen Kosten. | |
| Denn musikalisch ist das am Samstag im Theater Bremen uraufgeführte Stück | |
| „Erbarmen“ von Schauspielregisseurin Alize Zandwijk, das sich an der | |
| Matthäus-Passion entlang hangelt, noch nicht einmal ein gescheitertes | |
| Experiment. Das Arrangement von Komponistin und Kontrabassistin Maartje | |
| Teussink [2][probiert kaum mehr aus, als weiland James Last.] | |
| Im Wesentlichen hat sie den Orchestersatz für Streichquintett umgeschrieben | |
| und vieles noch mit verdoppelt. Die Profisänger singen ihre Soli gekonnt, | |
| wie ein mit Berufsmusiker*innen verstärkter Kirchenchor klingen die | |
| Choräle. | |
| Schaurig wird’s, wenn Schauspieler*innen die Arien übernehmen: Mut zum | |
| sadistischen Zersingen zeigt dabei allein Annemaike Bakker, die als | |
| Schwangere in Weiß ihre Runden durch Thomas Ruperts finsteren Bühnenraum | |
| zieht. Hier gelingt die Schwebung zwischen Peinlichkeit und Grauen. | |
| ## Bodenbelag aus schwarzen Bohnen | |
| Insgesamt aber hat man ein Leidenspotpourri in einem Wald verkohlter | |
| Stümpfe angerührt, schwarze Bohnen bilden den Bodenbelag. Das gleitet nicht | |
| erst im letzten Bild in Kitsch ab, wenn Teussink von schwarzem Baumstumpf | |
| zu schwarzem Baumstumpf watet und per Seilzug daran grünes Blattwerk | |
| aufsprießen lässt, während alle anderen [3][den tröstlichen Schlusschor in | |
| c-Moll intonieren]. | |
| Deutsche Elends-Stereotype – sieche Frau, Obdachloser, überforderte | |
| Krankenpflegerin, ein Jüngling in der Weltklimakrise etc. pp. – werden | |
| empört frontal von der Rampe ins Publikum unterrichtet. Manchmal werden | |
| Szenen gesponnen, so plakativ, dass sie dem seligen Hans Kresnik peinlich | |
| gewesen wären. | |
| Da wackelt dann Susanne Schrader als alte Frau über die Bühne. Ein | |
| Pflegehelfer – Tenor Paul Sutton – zieht ihr im Schlurfen die Unterhose | |
| aus, dann wieder an, und zwar dreimal, damit keine Missverständnisse | |
| aufkommen. | |
| Kitsch [4][ist laut Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart das | |
| „schlechte Gewissen der Kunst“]. Also das, was sie selbst nicht sein darf, | |
| aber gerne wäre: völlig unzweideutig, direkt und aufs Gefühlige berechnet. | |
| Die süße Schwere. Einfach zum Leben dazugehören, in ihm bedeuten, und, | |
| hach!, sich in Tränen niedersetzen, jetzt! Aber leider, selbst das | |
| Taschentuch bleibt diesen Abend trocken. | |
| 22 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Stephan-Meier-ueber-neue-Musik/!5061155 | |
| [2] https://www.amazon.de/James-Last-Spielt-Bach/dp/B0000260G9 | |
| [3] https://www.lptw.de/archiv/vortrag/2008/hirsch-mathias-formen-der-identifik… | |
| [4] https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110924480.1/html?lang=de | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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