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# taz.de -- Volksfest in Bremen: Konformitätsdruck vor der Kotzmühle
> Der Bremer Freimarkt eröffnet nach Corona fast ohne Einschränkungen. Es
> gibt unterschiedliche Reaktionen auf die durchgeregelte Entregelung der
> Kirmes.
Bild: Mit drei „Ischa Freimarkt“-Rufen eröffnen Schornsteinfeger das Volks…
Jubel, Trubel, Naserümpfen: Das sind die Muster, mit denen je nach Klasse
auf den Beginn des Freimarkts reagiert wird. Der Freimarkt ist
Norddeutschlands ältestes Volksfest, behaupten die Bremer. Der örtliche
Schlachtruf ab 15. Oktober lautet „Ischa Freimaak!“, die Leute freu’n sich
diesmal wie Bolle drauf: 2020 war nix wegen Covid. Alle vergleichbaren
Veranstaltungen wie [1][Oktoberfest, Rheinkirmes und Cannstatter Wasen sind
auch 2021 entfallen] oder so verzwergt worden, dass die Kernidee, durch
Masse, Lärm und Licht ein sinnverwirrendes Durcheinander in einem
eingehegten Bereich herzustellen, nicht aufging.
[2][Anders in Bremen]: 251 Attraktionen! Alkohol! Nur ein Zaun drum rum und
Lichtschrankenzähler, damit nie über 20.000 People zugleich da sind, plus
eine 3G-Kontrolle, sonst keine Einschränkungen.
Die Schausteller*innen sind erleichtert. Und die Lokalzeitung wird
sicher wieder trutschige Geschichten treuer Abonnent*innen drucken, wie
der Großvater die Großmutter am Schießstand nahm, damals nach dem Krieg,
oder umgekehrt. Oder wie’s beim Autoscooter-Crash gefunkt hat. Romantisch.
Das macht Polizeiberichte über sexualisierte Gewalt viel erträglicher!
Auf die durchgeregelte Entregelung der Kirmes schauen dagegen Bürgerkinder,
die auch gelernt haben, ins Theater zu gehen, oft etwas herab, so mit
Odiprofanumvulgus-Attitude. „Odi profanum vulgus“ ist ein Halbvers von
Horaz und heißt, „ich hasse das Volk“ (vulgus = das Volk), weil, ich bin ja
was Bess’res und meid’ es. Auch sie fahren selbstredend Achterbahn und
saufen bis zum Erbrechen, aber nur als ironisches Zitat. Im Alltag sagen
sie eher, Freimarkt, oh neiijen!, fettiger Backfisch, verzuckerte
Lebkuchenherzen, seit 1906 gibt’s auch Rostbratwurst, aber jetzt:
Kettenkarussell?!
Stets geht der Blick betreten zu Boden, wenn du im Gewühl auf Bekannte
stößt: Es ist eine guilty pleasure. Du verweist, so du kannst, auf
Konformitätsdruck. Die sozial nicht ordentlich segregierte
Pfadfinder*innengruppe wollte halt, kannste ja schlecht nein sagen.
## Zu vulgär fürs Feuilleton
Oder, karitativ: Es geht darum, dem Geflüchtetenvorkurs, der in der Schule
der eigenen Stufe zugeordnet ist, diese landeskundliche Erfahrung zu
ermöglichen. Siehe, das also ist im Jahr 2021 das größte deutsche
Volksfest: Es gibt Zuckerwatte. Bier. Ein 60-Meter-Riesenrad. Kotzmühlen.
Und eigentlich sind diese Fahrgeschäfte saublöd, weil teuer, kannste dir
nicht leisten, außer du kriegst so fett Taschengeld wie ich. Es ist
anstrengend, bürgerlich zu sein.
Diesmal hat ausgerechnet das [3][Theater Bremen] diese Dissonanz aufs
Schönste aufgelöst: Es zeigt seit kurz vor Freimarktbeginn Ödön von
Horvaths Rummelplatz-Stück „Kasimir und Karoline“ in einer formidablen
Inszenierung von Alize Zandwijk, einer Regisseurin, die Punk überlebt hat.
Es wird an nackten Männerärschen gekratzt, es wird gekotzt, gepisst und
kopuliert wie auf einem echten Volksfest. Und, was soll man sagen – das
örtliche Feuilleton fand doch tatsächlich: Das ist uns aber jetzt echt zu
vulgär!
15 Oct 2021
## LINKS
[1] /Kultur-zurueck-auf-Start/!5689444
[2] /Deutschlands-Impfmeister-Bremen/!5804035
[3] /Premiere-am-Theater-Bremen/!5779799
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Großraumdisco
Jahrmarkt
Klasse
Theater Bremen
Ödön von Horváth
Schwerpunkt Coronavirus
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