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# taz.de -- Erlebnisse auf dem Rummel: Kotzen, knutschen, Kettenkarussell
> Die Neuköllner Maientage in Berlin finden zum letzten Mal statt. Kaum ein
> Ort ist so streitbar wie die Kirmes – die taz-Redaktion erinnert sich.
Bild: Hui! Oder eher buh?
Volksfest, Jahrmarkt, Rummel oder Kirmes – damit sind Stadtfeste mit
Fahrgeschäften, Schieß- und Würstchenbuden, Zuckerwatte- und
Getränkeständen gemeint. Im Berliner Bezirk Neukölln heißt das Fest
[1][Neuköllner Maientage] und findet dieses Jahr vom 29. April bis zum 22.
Mai statt – zum 55. und letzten Mal an dem Ort, an dem es traditionell
immer stattfindet, im Volkspark Hasenheide. Denn der Park leide stark unter
dem Klimawandel, so der grüne Neuköllner Stadtrat Jochen Biedermann. Das
Volksfest führe zu zusätzlichen, erheblichen Schäden. Es wird ab dem
nächsten Jahr an einem alternativen Standort stattfinden.
An vielen Orten veranstaltete man Volksfeste ursprünglich zum
Kirchweihfest. Daher die Namen Kirmes, Kerwe oder Kilbi. Als ältestes
Volksfest Deutschlands gilt das Lullusfest im hessische Bad Hersfeld, das
seit dem 9. Jahrhundert veranstaltet wird. Das längste Volksfest
Deutschlands ist der Hamburger Dom, da er sogar dreimal jährlich
stattfindet. Zu den beliebtesten Jahrmarktattraktionen zählen Schießbude,
Autoscooter, Riesenrad und Kettenkarussell. Mit 1.250 Metern Länge ist der
Olympia Looping auf dem Münchner Oktoberfest die größte transportable
Achterbahn der Welt; auch bekannt ist sie – aufgrund ihrer Anzahl an
Überschlägen – unter dem Namen Fünferlooping. Ruth Lang Fuentes
## Küsse nach der Kirbe
Wenn es diese Kirmes nicht gegeben hätte. Vielleicht hätte sich Nicki nie
getraut, mich anzusprechen. Dabei war ich doch schon längst unsterblich
verliebt. Bei uns hieß das damals Kirbe, hatte aber genauso wenig mit der
Kirche, der Weihe und der Messe zu tun wie die Neuköllner Maientage und
fand auf dem staubigen Parkplatz vor dem Stadtteil-Freibad statt.
Die Kirbe war die Gelegenheit, meinen Schwarm zu treffen. Bis vor zwei
Jahren war er in die Klasse meiner Schwester an der Schule direkt neben
meiner gegangen, wir hatten sogar denselben Pausenhof. Aber um Himmels
Willen, mit 13 Jahren war ich noch schüchtern, Nicki wohl auch. Obwohl er
nicht schüchtern wirkte. Nicki war mit seinen Eltern aus dem damaligen
Jugoslawien eingewandert, hatte wunderschöne braune Augen und etwas
erotisch Zartes an sich. Er war cool, er war umschwärmt, aber da steckt man
ja nicht drin. In der Mitte der Kirbe stand so ein Karussell mit auf und ab
fliegenden Autos. Da war viel Wellengang. Man konnte unten, unter den
fliegenden Autos auf den silbern glänzenden Metallstreppchen sitzen, die
rund um das Karussell den Aufgang zu den Autos bildeten, wenn diese mal
nicht gerade flogen. Nicht so ganz inmitten der Clique sitzen, wie soll man
da ansprechbar sein, aber doch auch nicht ganz allein, kommt ja auch
eckensitzerinnenmäßig. So saß ich da mit zwei meiner Schwestern, als mir
von oben jemand auf den Kopf kotzte. Es war mega eklig. Aber Nicki war zur
Stelle und kümmerte sich trotz Ekelfaktor um mich. Vollgekotzt und beseelt
dabei. Drei Tage später war Faschingsparty im Jugendhaus, da kannten wir
uns schon. Es blieb nicht beim Tanz, aber ich war 13. In dem Alter waren
auch Küsse schon sehr aufwühlend. Barbara Junge
## Karl-Luis trinkt doch nicht!
Ich konnte die Faszination für Achterbahnen und Bierzelte noch nie
verstehen. Für meine Freund:innen während meiner Schulzeit war der
Canstatter Wasen ein absolutes Highlight, und das sogar zwei Mal im Jahr.
Ja, auch ich stand ein, zweimal auf einer wackeligen Biertisch-Garnitur,
mit einem Bierkrug in der Hand und fand alles nur so mittel gut. Kurze Zeit
später wollte der Zufall es, dass ich die Sache mal aus einer neuen
Perspektive ausprobiere: Eine Freundin von mir hat nach dem
Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein über ihre Schule noch weitere
Erste-Hilfe-Kurse besucht, um dann als Sanitäterin bei Veranstaltungen
auszuhelfen. Ich glaube, heute geht das alles gar nicht mehr so einfach,
aber damals konnte man tatsächlich nach einigen absolvierten Stunden
mithelfen.
Für mich klang das nach einer ziemlich guten Erfahrung, also schloss ich
mich an. So landete ich mit einem erfahrenen Sanitäter auf dem Canstatter
Wasen und drehte dort so meine Runden. Ich hatte mir diesen Ausflug
wahnsinnig aufregend vorgestellt, am Ende war ich nur um eine Erfahrung
reicher: Menschen können wahnsinnig viel kotzen und im nächsten Moment
einen innigen Wunsch nach Bier verspüren. Den gesamten Dienst sammelten wir
eigentlich nur total besoffene Teenager aus den hintersten Ecken der
Bierzelte ein, brachten sie und ihre aufgeregten Freunde in das
Erste-Hilfe-Zelt und warteten auf die Eltern der minderjährigen Besoffenen.
Und die fielen meist aus allen Wolken, wollten gar nicht wahrhaben, dass
Karl-Luis überhaupt Alkohol trinkt. Mit sorgenvollem Gesicht brachten sie
dann ihre Kinder zum Parkplatz, fragten ständig, ob sie sicher nicht noch
einmal spucken müssten – schließlich waren die allermeisten, ganz nach
Stuttgarter Manier, mit dem Porsche oder dem neuen Mercedes unterwegs und
bei aller Liebe zum Kind, diesen Geruch bekommt man nun wirklich nie wieder
aus dem Leder. Malaika Rivuzumwami
## Luft und Liebe
Aachen, 2003. Ich sitze weinend auf dem Riesenrad, leicht geduckt, starre
auf den Metallboden des Wagons. Ich habe mir die Fahrt nicht ausgesucht,
meine Familie hat mich trotz Höhenangst mitgeschleppt.
Konfrontationsstrategie, I guess.
Schnitt zu: Hasenheide Berlin, 2019. Leicht high und ziemlich verliebt
genieße ich den nächtlichen Blick über Neukölln. Im Dunkeln wirken die
Lichter des Rummels grotesk romantisch. Ich bin ziemlich stolz auf mich:
Gleich zu Beginn des Maientage-Dates habe ich aus dem Greifarmautomaten
einen Plüsch-Pikachu gezogen. Nach dem Flexen in der Insta-Story habe ich
ihn meinem Crush geschenkt. Gehört sich so, sagt maus. Sie hatte gesagt,
das Riesenrad wäre ihr Favorit. Sofort musste ich an die berühmte Szene aus
der Fernsehserie „O.C., California“ denken, in der Marissa und Ryan im
Riesenrad stecken bleiben und [2][nach einer Aussprache endlich
rumknutschen]. Auch Ryan hat Höhenangst, das haben wir neben unserem Faible
für Feinrippunterhemden gemeinsam.
Ich war unsicher, ob ich mich nach 16 Jahren wieder auf ein Riesenrad
traue. Ich schlug zunächst die Wildwasserbahn vor. Nach der spritzigen
Fahrt schauten wir auf den Bildschirm am Fotostand, wo unsere Gesichter zu
verpixelten, weit aufgerissenen Fratzen transformiert waren. Heimlich
fotografierte ich den Bildschirm und wir liefen weiter.
Und dann irgendwann die Überwindung. Doch zum Riesenrad. Ich konnte die
Unruhe in meinem Bauch nicht zuordnen, aber als sie beim Anblick meines
Crushes zunahm, wusste ich: Die Angst ist es nicht. Hengameh Yaghoobifarah
## Der Kotzhügel
Es ist 2009 und mitten im Chemieunterricht bekomme ich einen Anruf von
Marina, der Wiesnbegleiterin meiner Freundin: „Sie schafft es nicht mehr
heim. Wir sind am Eingang …“. Den Rest verstehe ich nicht. Im Hintergrund
grölt ein Mann. War da ein Fitzelchen Schlager? Die Mission ist aber klar:
Ich soll die beiden finden und nach Hause bringen. [3][Das Ding mit der
Wiesn] ist, dass sie riesig ist. Offizielle Karten helfen nur bedingt bei
der Orientierung. Die meisten Münchner*innen haben zusätzlich eine
detailliertere, persönliche Karte der Wiesn im Kopf. Sie ist geprägt von
allen bisherigen Wiesn-Besuchen, an die man sich noch erinnern kann.
Ich bin an der U-Bahn-Linie U6 aufgewachsen. Mein Eingang liegt direkt am
Toboggan, wo man Betrunkene bei ihrem Aufstieg zur Teppichrutsche
beobachten kann. Aber welcher Eingang ist der von Marina? Bis ich von der
Schule zur Wiesn komme, ist eine Dreiviertelstunde vergangen, die beiden
könnten jetzt überall sein. Ich schiebe mich durch die Massen, vorbei an
Mandeln, vorbei am Schichtl, eile zu den unterschiedlichen Eingängen,
während ich einem betrunkenen Touri ausweiche, der mich küssen will. Immer
wieder stelle ich mich auf die kleinen Metallpodeste einzelner
Fahrgeschäfte, um von etwas weiter oben besser sehen zu können. Der
Ausblick ist schön, aber wenig hilfreich. Nirgends sind die beiden zu
sehen. Auch nicht am Riesenrad.
Eigentlich weiß ich schon, wo sie stecken, ich hatte nur gehofft, dass es
noch nicht ganz so schlimm ist. Es ist der ekelhafteste und vielleicht auch
gefährlichste Ort der Wiesn. Hier wird geschlafen, geknutscht und gekotzt.
Hinter den Festzelten, am westlichen Rand der Wiesn, auf dem Weg zur
Theresienhöhe befindet sich ein Ort für alle Verlorenen: der Kotzhügel.
Johannes Drosdowski
1 May 2022
## LINKS
[1] /Auf-dem-Rummel-in-Neukoelln/!5591643
[2] https://www.youtube.com/watch?v=9xSwyLRif3k
[3] /Fotoband-zum-Oktoberfest/!5801326
## AUTOREN
Hengameh Yaghoobifarah
Barbara Junge
Malaika Rivuzumwami
Ruth Lang Fuentes
Johannes Drosdowski
## TAGS
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