| # taz.de -- 300. Geburtstag Immanuel Kants: Maximen, maximal | |
| > Vor 300 Jahren wurde der Philosoph Immanuel Kant geboren. Gründe zum | |
| > Gratulieren gibt es nach wie vor. | |
| Bild: Spröde Erscheinung, mit feinem Witz: der Philosoph Immanuel Kant (1724-1… | |
| Soll man Kant heute noch lesen? Diese Frage will dieser Text eigentlich gar | |
| nicht beantworten. Er wird sowieso weiter gelesen, und das mit Gewinn. Dass | |
| er heute zum Teil aus anderen Gründen kontrovers betrachtet wird als zu | |
| Lebzeiten, gehört dazu. | |
| Potenziell an der Lektüre Interessierte muss man grundsätzlich warnen. | |
| Immanuel Kant macht es einem mit seinen Schriften erfahrungsgemäß schwer. | |
| Wie der Philosoph Jens Timmermann seiner Neuausgabe von Kants „Kritik der | |
| reinen Vernunft“ im Meiner Verlag, die dieses Jahr anlassgerecht in einer | |
| Jubiläumsausgabe erscheint, vorausschickt: „Kants Texte, die schon seine | |
| Zeitgenossen befremdeten und von denen uns mehr als 200 Jahre trennen, | |
| bleiben in jedem Falle gewöhnungsbedürftig.“ Auf dessen verschachtelten | |
| Stil verweist er mit der ironischen Bemerkung: „Unsere Sätze sind im | |
| Durchschnitt kürzer als die Kantischen.“ | |
| Hinzu kommt ein für Philosophen typischer Sprachgebrauch, mit Begriffen, | |
| die Kant in der ihm eigenen umständlichen, auf Gründlichkeit bedachten | |
| Weise einführt. Am bekanntesten ist die von ihm begründete | |
| „Transzendentalphilosophie“, deren Großprojekt er mit seinem ersten | |
| Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“, beginnt. | |
| ## Es gibt mindestens zwei Kants | |
| Kant gilt als spröde. Der Philosoph Arthur Schopenhauer bescheinigte ihm | |
| etwa eine „glänzende Trockenheit“. Dabei gibt es im Grunde mindestens zwei | |
| Kants. Am 22. April 1724 wird er in Königsberg in einfache Verhältnisse | |
| geboren, sein Vater war Riemermeister, ein Handwerk des lederverarbeitenden | |
| Gewerbes, die pietistisch geprägten Eltern fördern seine Erziehung. Erst | |
| Schule, dann Universität. | |
| Nach einer Zeit als Hauslehrer wird Kant Privatdozent. Der selbstbewusste | |
| junge Akademiker ist gesellschaftlich, wenn auch nicht finanziell, | |
| erfolgreich, in seinen Vorlesungen herrscht, so ein zeitgenössischer | |
| Bericht, „freyer Discours, mit Witz und Laune gewürzt“. Verschiedene | |
| Versuche, in Königsberg Professor zu werden, scheitern zunächst. Bis er | |
| 1770, nach diversen Rufen an andere Universitäten, die er alle ablehnt, in | |
| Königsberg die Professur für Logik und Metaphysik erhält. | |
| Es folgen die sogenannte „kopernikanische Wende“ und ein immenses | |
| Arbeitsprogramm, weshalb Kant sich aus dem gesellschaftlichen Leben | |
| weitgehend zurückzieht und sehr strikte Alltagsroutinen einführt. Bloß | |
| mittags lädt er zu Tischgesellschaften in sein Haus, zu seiner einzigen | |
| Mahlzeit am Tag. Alles mit dem Ziel, sein philosophisches Werk, dessen | |
| Stationen er schon weit im Voraus plant, zu vollenden. Diesem veränderten | |
| Lebensstil verdankt sich in erster Linie das Bild eines preußischen | |
| Pedanten. | |
| ## Philosophie ohne „bullshit“ | |
| Bei Kant unterscheidet man zwischen „vorkritischen“ und „kritischen“ | |
| Schriften. Die Hauptwerke aus der zweiten Phase sind die drei „Kritiken“: | |
| die erkenntnistheoretische „Kritik der reinen Vernunft“, die „Kritik der | |
| praktischen Vernunft“ zur Ethik und die „Kritik der Urteilskraft“, sein | |
| ästhetisches Hauptwerk. „Kritik“ bezeichnet bei Kant einerseits das | |
| gebräuchliche Beanstanden von etwas, andererseits ist diese Kritik für ihn | |
| ein analytisches Verfahren, um „verworrene Erkenntnisse aufzulösen“, sie | |
| charakterisiert mithin seine philosophische Methode. | |
| Mit seinem philosophischen Projekt wollte Kant damals zwischen dem | |
| „französischen“ Rationalismus der Aufklärung und dem „britischen“ | |
| Empirismus vermitteln. Wo die Rationalisten Wissen als das bloße Resultat | |
| reinen Denkens betrachteten, stammte für die Empiristen alle Erkenntnis aus | |
| Erfahrung. Kant widersprach beiden Positionen und verband sie dabei in | |
| einer Weise, dass reines Denken einerseits bei ihm zur Voraussetzung wird, | |
| um Erfahrung zu bewerten. Ohne Letztere kann laut Kant andererseits aber | |
| auch kein Wissen zustandekommen. | |
| Seine Transzendentalphilosophie setzt sich daher zum Ziel, die „Bedingungen | |
| der Möglichkeit von Erkenntnis“ zu bestimmen. Seine Leitfrage ist: „Was | |
| kann ich wissen?“ Kant lotet so die Grenzen der menschlichen Vernunft aus, | |
| und zwar in der Absicht, all das aus dem Gebiet der Philosophie zu | |
| verbannen, was heute unter „bullshit“ rangieren würde. Seine | |
| zeitgenössischen Leser stieß das zum Teil kräftig vor den Kopf. | |
| ## Kant gegen die Neurowissenschaften | |
| Auch wenn erkenntnistheoretische Fragen in der Philosophie nach Kant | |
| mitunter anders gestellt wurden, erinnern Philosophen regelmäßig an die | |
| Vorzüge seiner Vermessung des Erkenntnisraums. | |
| Als in der Debatte um Willensfreiheit im Zeitalter der Neurowissenschaften | |
| die naturwissenschaftliche Position popularisiert wurde, die Hirnströme | |
| regelten alles unter sich, ohne freien Willen, verwiesen philosophische | |
| Kritiker auf Kants Position: Der hatte schon gegenüber deterministischen | |
| Modellen wie dem Spinozas, das überall in der Welt nur Kausalität und | |
| nirgendwo Freiheit am Werk sieht, die Freiheit als das Vermögen bestimmt, | |
| „eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen“, mithin spontan | |
| Kausalketten zu verursachen. | |
| Wenn eine Wissenschaft wie die Hirnforschung ausschließlich Kausalität | |
| beobachtet, sagt das, mit Kant gesprochen, eher etwas über die Grenzen des | |
| Gegenstandsbereichs und der Methoden dieser Forschungsdisziplin aus. | |
| ## Ethik als richtige „Denkungsart“ | |
| [1][Der Ansatz von Kants Ethik ist ähnlich radikal]. Mit seiner „Kritik der | |
| praktischen Vernunft“ bringt er moralische Fragen auf ein neues | |
| menschliches Maß, indem er vorgegebene Ziele, auf die sich andere Ethiken | |
| vor ihm stützen, ablehnt. Weder Gottes Wille noch ein höchstes Gut, wie es | |
| in der antiken Philosophie postuliert wurde, erscheinen ihm als Kriterien | |
| für eine richtige „Denkungsart“ geeignet. | |
| Für ihn taugt als Instanz der Ethik allein die Vernunft, die Freiheit | |
| ermöglicht. Ihre Form findet die Freiheit durch das „moralische Gesetz“, im | |
| Singular wohlgemerkt. Diese moralische Selbstverpflichtung aus Freiheit | |
| bringt er im „kategorischen Imperativ“ auf eine Formel. In der „Kritik der | |
| praktischen Vernunft“ lautet er: „Handle so, daß die Maxime deines Willens | |
| jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten | |
| könne.“ | |
| Dieses Prinzip, bei dem es um selbstgewählte Maximen als Grundlage des | |
| Handelns geht, erfordert stets eine Prüfung, ob die Maxime für alle | |
| Menschen gültig sein könnte. Man spricht daher auch von Kants | |
| „Universalismus“. Die Maximen müssen so gewählt sein, dass jeder Mensch | |
| damit als „Zweck“ behandelt wird und nicht als „Mittel“: Jeder Mensch i… | |
| durch seine Freiheit ein Zweck „an sich“ und darf nicht als Mittel | |
| instrumentalisiert werden. | |
| Doch obwohl sich der kategorische Imperativ als abstrakte Formel | |
| präsentiert, reicht es für Kant nicht, nur der Form nach seine Pflicht zu | |
| erfüllen. Man muss zugleich dem eigenen Willen nach „aus Pflicht“ handeln, | |
| um ethisch zu handeln. Dass sich der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf | |
| Eichmann in seinem Prozess in Israel auf den kategorischen Imperativ | |
| berief, um seine Holocaustverbrechen zu legitimieren, ist der perfideste | |
| Fall eines Versuchs, Kants formale Ethik zu missbrauchen. | |
| ## Universalismus und Rassismus | |
| Dieser formalistische Ansatz ist zunächst von Hegel und später von anderen | |
| Philosophen kritisiert worden. Er wird jedoch wiederkehrend neu verteidigt. | |
| In den neunziger Jahren machte sich etwa der Philosoph Slavoj Žižek für den | |
| kategorischen Imperativ stark, heute verteidigen die Anhänger von Kants | |
| Universalismus ihn gegen [2][Kritiker, die rassistische, antisemitische | |
| oder misogyne Aussagen in seinen Schriften zum Anlass nehmen zu fragen, ob | |
| Kant seine Ethik wirklich unterschiedslos für alle Menschen gedacht hat]. | |
| Kant wird dann wahlweise gegen die Strömung des „wokeism“ in Stellung | |
| gebracht oder als erster woker Philosoph gehandelt. Daraus die Konsequenz | |
| zu ziehen, Kants Ansatz für gescheitert zu erklären, ist allerdings ebenso | |
| vorschnell wie die Reaktion, es handle sich bloß um einen Widerspruch in | |
| Kants Werk. | |
| Die Frage, die mit dieser Kritik aufgeworfen wird, stellt einen klassischen | |
| Einwand gegen Kant in einen aktuellen Zusammenhang: Sein | |
| abstrakt-universalistischer Ethik-Entwurf kann im Zweifel nicht verhindern, | |
| dass man über der allgemeinen Formel, die Kant als geistige Orientierung | |
| bietet, blind wird für Details der Wirklichkeit. | |
| Ob sich der Universalismus als philosophisches Projekt damit als solcher | |
| erledigt hat, ist gleichwohl eine offene Frage. Ein Kommilitone aus dem | |
| Philosophiestudium brachte die Schwierigkeiten mit Kants Ethik einmal so | |
| auf den Punkt: „Kant doesn’t work in a f***ed up situation.“ | |
| Ungeachtet dessen hat Kant wichtige politische Impulse gegeben, die bis in | |
| die Gegenwart reichen: Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 ist stark | |
| angeregt durch seine Schrift „Zum ewigen Frieden“. Deren Titel ist ironisch | |
| gemeint – Kant hatte, entgegen einem gängigen Vorurteil, feinen Witz. | |
| Kant, sonst nicht als Aphoristiker bekannt, hat in seinem Nachlass übrigens | |
| eine Charakterisierung des philosophischen Arbeitens gegeben. Sie hat | |
| Bestand, im Guten wie im Schlechten: „Philosophische Augen sind | |
| mikroskopisch. Ihr Blick sieht genau, aber wenig, und seine Absicht ist | |
| Wahrheit.“ | |
| 22 Apr 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Philosoph-Kant-im-Dialog/!5996032 | |
| [2] /Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Philosophie | |
| Immanuel Kant | |
| Geburtstag | |
| Aufklärung | |
| Ethik | |
| Wissen | |
| Vereinte Nationen | |
| GNS | |
| Nachruf | |
| Philosophie | |
| Demokratie | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Politologin Ingeborg Maus gestorben: Den Motorradhelm hatte sie im Büro | |
| Die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus betrieb Aufklärung der | |
| Demokratietheorie. Ziel von Politik war für sie, Gewalt einzudämmen. Ein | |
| Nachruf. | |
| Philosoph Kant im Dialog: Im Namen des moralischen Gesetzes | |
| Der Philosoph Omri Boehm erhält in Leipzig den Buchpreis für Europäische | |
| Verständigung. Mit Daniel Kehlmann spricht er, in Buchform, über Kant. | |
| Buch über politische Philosophie: Nicht bloß eine Frage des Glaubens | |
| Demokratie in Bedrängnis: Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt | |
| rekonstruiert die philosophisch-politische Diskussion um sie seit der | |
| Antike. | |
| Immanuel Kant und der Rassismus: Lasst das Denkmal stehen | |
| Immanuel Kant hatte rassistische Vorurteile. Aber er war ein Gegner des | |
| Kolonialismus und glaubte keineswegs an „verschiedene Arten von Menschen“. |