# taz.de -- Analyse der Wahlergebnisse: „In ostdeutschen Städten nicht abges… | |
> Wer wählt in Deutschland was, und warum? Ein Gespräch mit dem Soziologen | |
> Ansgar Hudde über Wahlmuster, den Gender Gap – und warum die Linke ihn | |
> überrascht hat. | |
Bild: Freudiger Erwartung beim Wahlabend der Linken in Berlin: nicht nur in den… | |
taz: Herr Hudde, Sie haben sich intensiv damit beschäftigt, wer in | |
Deutschland was wählt und warum. Gab es für Sie bei dieser Bundestagswahl | |
trotzdem Überraschungen? | |
Ansgar Hudde: Ja, die Linkspartei. Und zwar, weil sie in zwei völlig | |
unterschiedlichen Milieus stark ist: In gentrifizierten Großstädten und | |
ostdeutschen Kleinstädten. Dass sie im urbanen Milieu gut abschneidet, war | |
zu erwarten. Mich hat aber überrascht, dass die Partei in ostdeutschen | |
Städten nicht abgestürzt ist. In vorherigen Landtagswahlen und der | |
Europawahl gab es einen Trend in diese Richtung. | |
taz: Aber im Osten war doch vor allem die AfD stark? | |
Hudde: Schauen Sie sich Gera in Thüringen mit knapp 100.000 Einwohnern an. | |
Der Ort altert, steht wirtschaftlich nicht sonderlich gut da und es gibt | |
keine Universität. Es herrscht eher ein Bergab-Gefühl. Sie haben Recht, die | |
AfD hat hier mit 40 Prozent sehr gut abgeschnitten. Aber die Linke hat dort | |
sogar leicht hinzugewonnen. Das ist neben den starken Ergebnissen für AfD | |
und BSW beachtlich. | |
taz: Haben Sie dafür eine Erklärung? | |
Hudde: Die Linke hat es geschafft, Themen zu setzen, die eine breite Gruppe | |
ansprechen: Mieten, Löhne, Umverteilung. Andere Themen, die einzelne | |
Milieus abschrecken könnten, standen vielleicht im Parteiprogramm, aber | |
kamen in den Werbespots oder auf den Wahlplakaten kaum vor. Hierzu zwei | |
Beispiele: unter den Großstädter:innen, die von den Grünen zur Linken | |
gewechselt sind, sind viele mit der Außenpolitik der Linken unzufrieden und | |
wünschen sich eine klarere Unterstützung für die Ukraine. In der alten | |
Kernwählerschaft der Linken in Orten wie Gera bekommt die Partei Gegenwind | |
zu ihrer migrationsfreundlichen Haltung, insbesondere wenn es um | |
Fluchtmigration geht. | |
taz: Gab es weitere Überraschungen? | |
Hudde: Es ist keine Überraschung, aber bemerkenswert, dass die AfD in | |
CDU-Hochburgen im konservativen Nordwesten, wie dem Emsland und | |
Münsterland, überproportional dazugewonnen hat. Diese Regionen sind | |
kleinstädtisch, ländlich und stark katholisch geprägt. Lange Zeit hatte die | |
AfD hier keinen Fuß auf den Boden bekommen, und das wurde auch damit | |
begründet, dass es eine starke milieubasierte Bindung an die CDU gibt. Bis | |
2017 waren dort die AfD-Stimmanteile niedriger als in Köln oder München. | |
Seitdem ändert es sich, die AfD schließt hier zum Bundestrend auf, die | |
CDU-Bindung ist nicht mehr so stark. | |
taz: Die AfD hat bei jungen Männern zwischen 18 und 24 Jahren mit 27 | |
Prozent sehr gut abgeschnitten. Frauen in der gleichen Alterskohorte | |
wählten mit 35 Prozent die Linke. Was ist da los? | |
Hudde: [1][Das sogenannte Gender Gap im Wahlverhalten zeigt, dass junge | |
Männer eher rechts wählen und junge Frauen eher links.] In manchen | |
westlichen Demokratien gibt es diesen Gap schon seit mehreren Jahrzehnten, | |
in Deutschland ist er erst mit der Bundestagswahl 2017 aufgetreten und | |
seitdem deutlich gewachsen. Während die FDP 2021 bei jungen Männern die | |
stärkste Partei war, ist es jetzt die AfD. Junge Frauen haben bei der | |
letzten Wahl überwiegend grün gewählt, jetzt wählen sie am häufigsten | |
links. | |
taz: Woher kommt das? | |
Hudde: Junge Menschen sind viel weniger parteigebunden als ältere. Das kann | |
also bei der nächsten Wahl auch wieder anders aussehen. In der Regel | |
verbleiben sie aber innerhalb des linken oder rechten politischen | |
Spektrums. | |
taz: Und wie erklären sich die Geschlechterunterschiede? | |
Hudde: Zum einen sind da die soziodemographischen Merkmale: Geschlecht, | |
Alter und Bildung. [2][Junge Frauen machen zum Beispiel häufiger Abitur und | |
studieren.] Dass Menschen mit akademischen Bildungsabschlüssen seltener | |
rechts und häufiger links-liberal wählen, zeigt sich in vielen Ländern. | |
Rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien haben eine | |
Anti-Establishment-Rhetorik und sind teils offen wissenschaftsfeindlich – | |
in akademischen Milieus kommt das schlechter an. Junge Frauen sind zudem | |
besonders unzufrieden mit dem Stand der Gleichberechtigung und finden vor | |
allem bei linken Parteien politisches Gehör. | |
taz: Und was verleitet junge Männer, die AfD zu wählen? | |
Hudde: Neben Punkten wie Inflation, Unzufriedenheit, Krisensituation und | |
schlechten Zukunftsaussichten, die oft genannt werden, ist es auch hier das | |
Thema Gleichstellung – bloß andersherum. Es gibt eindeutig eine Bewegung zu | |
einer Anti-Haltung gegenüber Feminismus und eine Nostalgie hin zu alten | |
männlichen Tugenden. Das bedient die AfD. | |
taz: Gibt es das Gender Gap auch bei älteren Wähler:innen? | |
Hudde: Ab 35 Jahren werden die Unterschiede viel geringer, das ist aber | |
neu. Frauen mittleren und höheren Alters wählen inzwischen sehr viel öfter | |
AfD. Während 2021 auf 100 AfD-Wähler nur knapp 60 AfD-Wählerinnen kamen, | |
waren es diesmal 80-90 AfD-Wählerinnen. [3][In diesen Altersgruppen sehen | |
wir eine gesellschaftliche Normalisierung der AfD trotz ihrer inhaltlichen | |
Radikalisierung.] | |
taz: In Ihrem bald erscheinenden Buch sprechen Sie von Wahlmustern, die in | |
Deutschlands Nachbarschaften zu beobachten sind. Was ist das? | |
Hudde: Ich analysiere die Wahldaten aller über 94.000 Stimmbezirke | |
Deutschlands und teile sie in vier Wahlmuster ein. Um die Muster greifbar | |
zu machen, untersuche ich einige Beispielorte genauer. Ich betrachte die | |
Wahldaten, Informationen zur Sozialstruktur, spreche mit Menschen vor Ort | |
und sammle Alltagsbeobachtungen durch die soziologische Brille. Wie sehen | |
die Nachbarschaften aus, worin unterscheiden Sie sich? Welche Milieus | |
prägen die Nachbarschaften, wie alt, wohlhabend und migrantisch sind sie? | |
Und wie erleben die Menschen dort ihren Wohnort? | |
taz: Was bringt diese Einteilung in Wahlmuster? | |
Hudde: Dadurch wird die Komplexität der lokalen Wahlergebnisse greifbar. | |
Mein Ziel mit dem Buch lautet: Wer die vier Wahlmuster kennt und ein Bild | |
von den charakteristischen Orten und Nachbarschaften vor Augen hat, | |
versteht einen großen Teil der politischen Landkarte Deutschlands und | |
gewinnt auch einen tieferen Einblick in die Bundesrepublik insgesamt. | |
taz: Welche Wahlmuster sind das? | |
Hudde: Im ersten Muster, ich nenne es das „Politische Tyischdeutschland“, | |
wird ungefähr so gewählt, wie es dem Bundesdurchschnitt entspricht. Die | |
allgemeine politische Stimmung kann man dort einigermaßen nachempfinden. | |
Das sind vor allem die westdeutschen Mittel- und Kleinstädte, wo die | |
meisten Menschen in Deutschland leben. Das „Konservativ-Wahlmuster“ gibt es | |
vor allem im ländlichen Bayern. Dort sind die Union und die Freien Wähler | |
deutlich stärker, die AfD ist im Bundesdurchschnitt und alles links der | |
Mitte ist schwach. Wenn diese linken Parteien nun auch im allgemeinen Trend | |
schwächer werden, kann das in konservativen Nachbarschaften zu einer | |
richtigen politischen Blase führen. | |
taz: Was heißt das? | |
Hudde: Sie treffen dort fast niemanden, der links der Mitte wählt. Einen | |
wichtigen Teil der politischen Landschaft bekommt man im Alltag dann nicht | |
mehr mit. Wir wissen, dass Kontakt über politische Grenzen hinweg | |
Vorurteile abbauen kann. Dieser Faktor fällt weg. | |
taz: Welche sind die anderen beiden Wahlmuster? | |
Hudde: Als drittes kommt das „AfD trifft Linke-Wahlmuster“. Dort sind | |
sowohl AfD als auch Linke etwa doppelt so stark wie bundesweit. Die | |
Parteien der Mitte hingegen sind sehr schwach. Nehmen wir wieder das | |
Beispiel des thüringischen Gera: CDU, SPD, Grüne und FDP kommen 2025 gerade | |
einmal auf 31,6 Prozent der Zweitstimmen. Regierungen der Mitte haben dort | |
nie eine Mehrheit und damit ein Repräsentationsproblem. | |
taz: Wie verbreitet ist das? | |
Hudde: Dieses Wahlmuster trifft auf ländliche Regionen und Kleinstädte in | |
Ostdeutschland zu. Aber auch auf Randbezirke der großen Städte wie Leipzig | |
und Dresden. Auch in Westdeutschland gibt es dieses Wahlmuster, etwa im | |
wenigen wohlhabenden Duisburger Norden, in Gelsenkirchen oder in | |
Industriestandorten wie Ludwigshafen und Pforzheim. Und dann ist da noch | |
das „Grün-Links-Wahlmuster“, das in den Zentren der Metropolen und | |
Universitätsstädte stark ist. Dieses Wahlmuster hat das klarste | |
soziodemographsiche Merkmal: das hohe Bildungsniveau. | |
taz: Das sind dann die gentrifizierten Städte? | |
Hudde: Ja, und in den Kerngebieten dieses Wahlmusters haben die Parteien | |
links der Mitte kaum verloren. Das ist beachtlich, denn bundesweit haben | |
SPD, Grüne und Linke zusammen rund 8,5 Prozentpunkte verloren. Die AfD legt | |
zwar auch hier zu, aber auf sehr niedrigem Niveau. In manchen Stadtteilen | |
Kölns etwa von 2 auf 4 Prozent, in Tübingen insgesamt von 3 auf 6 Prozent. | |
In den Städten führt das zu einer Polarisierung, weil die zentrumsnahen | |
Viertel grün-links bleiben, während alles drumherum sich davon wegbewegt. | |
28 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Soziologe-ueber-Wahlen-und-Geschlecht/!5989145 | |
[2] /Chancengleichheit-an-Unis/!5934857 | |
[3] /Soziologe-Heitmeyer-ueber-Autoritarismus/!6039342 | |
## AUTOREN | |
David Honold | |
## TAGS | |
Soziologie | |
Wahlen | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Social-Auswahl | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Fake News | |
Umfragewerte | |
Wahlen in Ostdeutschland 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach historischer SPD-Wahlniederlage: Linke Volkspartei sucht Mehrheit | |
Die SPD will sich neu aufstellen und Lehren aus dem historisch schlechten | |
Bundestagswahlergebnis ziehen. Der Parteitag wird auf den Sommer | |
vorgezogen. | |
Politik und Philosophie: Adorno, die Disruption und die Brandmauer | |
Haben wir die Einsichten der Kritischen Theorie für zu selbstverständlich | |
genommen? Die „Erziehung zur Mündigkeit“ zur Bundestagswahl neu gelesen. | |
Die Bundestagswahl in Zahlen: Wer hat wo wen gewählt? | |
Wie haben die Parteien abgeschnitten? Wo haben sie ihre Hochburgen? Wohin | |
sind die Wähler:innen gewandert? Alle Ergebnisse der Wahl in Grafiken. | |
Soziologe über Wahlen im Osten: „Bei den Jungen habe ich Hoffnung“ | |
Viele Ostdeutsche wissen genau, wie man der rechten Unterwanderung | |
begegnet, sagt der Soziologe Daniel Kubiak. Ihnen müsse man zuhören. |