Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wie raus aus dem Nachwahlkater?: Politische Disruptionen
> Was neue Linken-Wähler umtreibt. Wo Habeck scheiterte. Was Weidel
> prophezeit. Die taz-Kulturredaktion hat noch Anmerkungen zur
> Bundestagswahl.
Bild: Am Reichstag wird gebaggert, noch bis 2030. Auch das politische System wi…
## Gemischte linke Gefühle
Man kann es seltsam finden, dass die Linkspartei innerhalb weniger Wochen
ihre Prozentpunkte nahezu verdoppelt hat. Seltsam, weil sich dieser
Zugewinn wohl nicht nur durch ein plötzlich erwachtes linkes Bewusstsein,
sondern eher durch den Social-Media-Erfolg charismatischer Abgeordneter
erklärt.
Kulturpessimistisch (aber richtig) erkannte der Medienwissenschaftler Neil
Postman die dem Fernsehdiskurs zugrundeliegende „Superideologie“ als die
des Entertainments, der sich jegliche, auch politische Inhalte
unterordneten. Für Tiktok gilt das umso mehr. Man kann an den Komplex auch
mit schärfer schneidendem Besteck herantreten und die Gesellschaft mit Guy
Debord unter dem Stern des Spektakels betrachten – man kann das alles aber
auch lassen. Denn dass sich die Mehrheit der Erst- und Jungwähler:innen
plötzlich für eine linke und nicht, wie es manche Horrorumfragen
nahelegten, für eine am äußersten rechten Rand stehende Partei erwärmt,
gibt erst mal durchaus Anlass zur Freude.
Aber nein, Deutschlands Boomer sind sich einig: Die Jugend [1][hat die
Ukraine vergessen.] Nun erwarteten wohl die wenigsten, durch ihr Kreuz bei
der Linken einen sofortigen Nato-Austritt herbeizuführen und Jan van Aken
ins Kanzleramt zu geleiten. Dass es vor allem darum ging, eine linke Partei
überhaupt im Bundestag zu halten, wird gern unterschlagen. Und überhaupt:
Sind CDU- und FDP-Wähler:innen mit allem d’accord, was ihre Parteien
vorschlagen?
Menschen, die gerade noch freitags fürs Klima streikten, wählen weiterhin
eine Partei, die mitverantwortlich dafür ist, dass Lützerath zugunsten des
Kohleabbaus abgebaggert wurde. Menschen, die sich als sozialdemokratisch
bezeichnen, geben ihre Stimme jenen, die für eine krasse Rechtswende in der
Asylpolitik eintreten. Politik, das geht nicht ohne Kompromisse, heißt es
immer. Kalkül, Taktik, Bauchschmerzen – man muss den Linke-Wähler:innen
schon die gleichen gemischten Gefühle zugestehen, die auch alle anderen
quälen. Julia Hubernagel
## Weidels böse Prophezeiung
Es war eine hegemonial auftretende Alice Weidel, die am Sonntagabend in der
TV-Wahlrunde saß: Perlenkette, weiße Bluse, dazu ein Lächeln, das zur
Abwechslung mal echt schien. Verschwunden waren die aggressive
Körpersprache, das verächtliche Grinsen, das die AfD-Co-Vorsitzende sonst
zur Schau stellt.
Mit ihren [2][gut 20 Prozent im Rücken] saß Weidel aufrecht im Sessel. Und
bot, dauerlächelnd, Friedrich Merz eine „konservative Mehrheitsoption“,
eine „ausgestreckte Hand“ an. Kreide hatte Weidel allerdings nicht
gefressen, im Gegenteil gab sie sich machtbewusst. Man habe Zeit; wenn Merz
nicht koalieren wolle, dann klappe es eben mit seinem Nachfolger. Und das
vielleicht schon bald, lang werde Merz’ Koalition eh nicht halten.
Damit liegt die Strategie für die kommende Legislatur auf dem Tisch, sie
wirkt wie eine böse, sich selbst erfüllende Prophezeiung: Die AfD, die den
demokratischen Parteien bereits ihre Hass-und-Angst-Agenda aufzwingen
konnte, wird den Druck noch erhöhen. Mit immer radikaleren Interventionen
wird sie die (vermutliche) Groko treiben.
Jedes neue Attentat, jede neue Gewalttat wird sie dazu nutzen, den
Untergang Deutschlands zu beschwören und sich als Alternative ins Spiel zu
bringen. Die erstarkten Rechten werden die Parlamentsarbeit blockieren und
die Öffentlichkeit mit „flooding the zone“-Bullshit kirre machen.
Pausenlos. Zwar zeigte Merz sich am Wahlabend entschlossen, die Probleme
der Leute „zu lösen“ und die AfD so wieder zu verkleinern.
Aber es ist fraglich, ob er die Power und die politischen Partner hat, um
das durchzuhalten. Oder entweder selbst einknickt – oder es dann
folgerichtig jemand wie Jens Spahn sein wird, der die schwarz-blaue Mauer
endgültig einreißt. Nina Apin
## Blackrock Merz
Wie kommt man aus dem Wahl-Kater? Die gute Nachricht der Bundestagswahl
war, dass zumindest ein Bündnis zweier demokratischer Parteien mit knapper
Mehrheit möglich ist. Der Wahlsieger CDU und der Wahlverlierer SPD können
sich zur hoffentlich halbwegs stabilen Großen Koalition zusammenschließen,
selbst wenn damit viele Fragen offenbleiben, die Abstimmungen mit
erforderlicher Zweidrittelmehrheit betreffen.
In die Erleichterung mischt sich zugleich ein Unbehagen. Muss man jetzt
dankbar sein für einen künftigen Kanzler Merz, der sich nicht vor grob
populistischen Äußerungen scheut und im Umgang mit der AfD sein eigenes
Wort binnen weniger Monate gebrochen hat? Und was für ein Politikstil ist
noch von dem Millionär Merz zu erwarten, der unter anderem bis 2020
Aufsichtsratsvorsitzender des Vermögensverwalters Blackrock in Deutschland
war?
Die Frage, wie die Gesellschaft in Deutschland einigermaßen zusammenhalten
kann, hängt ja nicht allein am Umgang mit dem Thema Migration. Als
Sozialpolitiker für alle in Deutschland lebenden Menschen muss sich Merz
erst erweisen. Anlass dafür, ihn mit Vorschusslorbeeren zu begrüßen, hat er
dabei kaum geboten. Am Ende dürfte das kleinere Übel das kleinere Übel
bleiben.
In diesem Sinne jetzt bitte alle mitsingen nach der Melodie des Refrains
des Songs „Black Hole Sun“ [3][von Soundgarden:] „Blackrock Merz kennt
kein’ Schmerz / Er kennt sich aus mit Geld / Blackrock Merz / Hat kein Herz
/ Hat kein Herz …“ Tim Caspar Boehme
## Blaupause Österreich
Lang galt Deutschland in der Welt als Paradebeispiel: für Innovation und
Technik, für Pünktlichkeit und Effizienz und nicht zuletzt für seine
beispiellose Geschichtsaufarbeitung. „Nie wieder!“ prägte Fremd- wie
Selbstbild der Deutschen. Dieses Bild wackelt nicht mehr nur, es ist
endgültig zerstört.
Das entnehme ich erstaunten Nachrichten befreundeter Kolleg:innen aus
dem lateinamerikanischen Raum, die meine Insta-Storys nach der
Bundestagswahl kommentierten. Ähnlich formulierte es aber auch der
österreichische Journalist Florian Gasser im Zeit-Podcast „Servus. Grüezi.
Hallo“: 20 Prozent für die AfD sei eine ganz, ganz harte Zäsur in
Deutschland, sagte Gasser.
Wer im Glashaus sitzt …, möchte man kurz rufen. Schließlich war das
„Ösi-Pendant“ zur AfD, die FPÖ, schon fünfmal Teil der dortigen
Bundesregierung und hätte in Herbert Kickl [4][um ein Haar] den neuen
Kanzler gestellt. Überhaupt geht der in Europa erstarkte Rechtspopulismus
der vergangenen Jahre unter anderem auf das Konto des bereits verstorbenen
FPÖ-Politikers (später BZÖ) Jörg Haider, der ihn unter dem Motto
„Österreich zuerst“ great again gemacht hat.
Aber „ihr seids nicht so anfällig für so etwas, wie in Österreich“, dach…
Gasser noch bis zum Wahlsonntag über die Deutschen. Weit gefehlt.
Nationalismus, rechtes Gedankengut, antidemokratische Werte – all das
war nie weg, versteckte sich nur lang gut genug an den Rändern. Die mehr
als unheimliche Überraschung im Wahlkampf war, wie schnell sich all das
seinen Weg zurück in die Mitte bahnen kann.
Selbst AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel kritisierte, die CDU/CSU habe das
Programm ihrer Partei abgeschrieben. Ein Move, auf den das „Team Merz“
nicht von allein gekommen sein dürfte. Bereits 2017 übernahm Sebastian Kurz
für seinen Wahlkampf (Team Kurz) Inhalte der rechtsextremen FPÖ, änderte
die Farbe seiner Partei ÖVP von Schwarz zu Türkis und gewann. Immerhin,
Kurz scheiterte politisch 2021 an seiner Machtgeilheit. Ob Österreich hier
mal wieder als Blaupause taugt? Sophia Zessnik
## Europas Schwäche
Emetic ist ein elegant fließendes englisches Adjektiv. Auf Deutsch
übersetzt bedeutet es weniger geschmeidig „Brechreiz erregen“. Gelernt habe
ich es von Bret Stephens, einem eher konservativen Kolumnisten der New York
Times. Er hat es in einem Gespräch mit seiner linksliberalen Kolleg:in
Masha Gessen und dem Meinungsredakteur Patrick Healy gesagt, das kurz vor
der Bundestagswahl ebendort abgedruckt war.
Es war Stephens Antwort auf die Frage, wie ihm einen Monat nach Trumps
Amtsübernahme zumute ist. Den Brechreiz kann man ihm kaum verübeln; es
vergeht kein Tag, an dem der US-Präsident nicht etwas verlautbaren lässt,
das wirkt, als hätte er sich das gesamte ukrainische Siliziumvorkommen
durch die Nase gezogen.
Diese Disruptionen kommen zwar in noch verkehrsberuhigter Form, aber doch
inzwischen in der deutschen Politik an. Siehe die Kleine Anfrage der
CDU/CSU-Fraktion wegen Omas gegen Rechts und anderes. Stephens und Gessen
machen sich wegen der Mesalliance von Trump und Putin nichts vor. Trump
wird von Gessen als „Raubtier“ bezeichnet.
Noch mehr sorgt die Kolumnisten allerdings eine vermeintliche Schwäche
Europas; wo dieser in der EU angeblich mit einer Stimme sprechende
Kontinent nun Stärke zeigen müsste gegenüber Trump, inklusive unilateraler
Positionen und diplomatischen Verhandlungsgeschicks, wirkt er zerstritten.
Ob eine Koalition aus CDU/CSU und SPD nun die Führung übernimmt und Europa
zu neuer Stärke führt, bleibt abzuwarten.
Stephens beschreibt die Schwäche Europas sogar als „geopolitisches Risiko“
und zieht einen Vergleich zum Zustand des Libanon um 1960. Brechreiz
erregend auch das. Julian Weber
## Habecks Scheitern
Nachdem 1968 die Umwandlung der Gesellschaft nicht sofort geklappt hatte,
kamen bei den Nachgeborenen der Proteste die Lehren von der großen
Verweigerung an. Das Ganze war das Unwahre. Das System steckte in einem
drin. Herbert Marcuse und die Hippies sagten: Drop out. Die Punks sagten:
No Future. Der einzige Weg war rausgehen, aussteigen, einfach nicht
mitmachen.
Es brauchte lange und benötigte viele Umwege, um diese Verweigerungshaltung
wieder einzuhegen. Bei den Grünen mussten die Flügel kämpfen. Die
alternativen Bewegungen mussten sich stabilisieren und eigene
Infrastrukturen ausbilden, sodass selbst Jürgen Habermas anerkennend von
einer „Fundamentalliberalisierung“ reden konnte. Joschka Fischer musste
seine Turnschuhe ins Museum tragen. Die neuen Kämpfe um Anerkennung und
Sichtbarkeit mussten das Internet bevölkern. Es musste Raum entstehen, der
es ermöglichte, pragmatische Politikansätze nicht gleich als Verrat zu
verunglimpfen.
Diese Bewegung weg von der Verweigerung und hin zu Engagement und
Pragmatismus mündete irgendwann in Robert Habeck. Er war der Mann, der die
Kluft zwischen Bewegung und Politikbetrieb überbrücken sollte. Wie einfach
das klingt: gesellschaftliche Probleme erkennen, sie benennen, mit den
Beteiligten reden, Probleme lösen. Aber was für Fallen da lauern. Ein
Politiker, der sich erklärt, seine Ansätze, seine Ideen, was für die eine
Seite, was für die andere Seite spricht: was für eine Utopie im Grunde. Sie
ist jetzt gescheitert.
Was Robert Habeck auch immer für Fehler gemacht haben mag, [5][dieses
Scheitern] ist auch historisch. Gescheitert ist damit ein Stück weit auch
die Gesellschaft als Ganzes. Statt pragmatisch nach Lösungen zu suchen,
geht es jetzt darum, Demagogen und Backlashs zu bekämpfen. Was richtig ist,
aber auch traurig.
Die Politik wird wieder übersichtlicher, aber auch bedrängender und
unterkomplexer. Bei Habeck ging es um die Bearbeitung von Details. Jetzt
heißt es wieder: Auf welcher Seite stehst du? Keine Pointe. Dirk Knipphals
1 Mar 2025
## LINKS
[1] /Jungwaehlerinnen-fuer-die-Linken/!6068685
[2] /AfD-mit-Rassismus-zum-Rekord/!6071932
[3] /Nachruf-auf-Chris-Cornell/!5410601
[4] /Gescheiterte-Koalition-in-Wien/!6066660
[5] /Habecks-Rueckzug/!6068418
## AUTOREN
Julia Hubernagel
Nina Apin
Tim Caspar Boehme
Sophia Zessnik
Julian Weber
Dirk Knipphals
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
wochentaz
Politisches Feuilleton
Alice Weidel
Robert Habeck
Die Linke
GNS
Social-Auswahl
Medienkunst
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Fake News
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schau von Schriftsteller Tom McCarthy: Der Bruch im Loop und umgekehrt
Im Dortmunder Hardware MedienKunstVerein ist die Schau „Holding Pattern“ zu
sehen. Kurator Tom McCarthy zeigt Größen der Medienkunst.
Abgeordnete mit Migrationshintergrund: Bundestag ist sehr weit von Repräsentat…
Der Anteil von Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Bundestag sinkt.
Auch Frauen und Arbeiter*innen sind zu selten im Parlament vertreten.
Politik und Philosophie: Adorno, die Disruption und die Brandmauer
Haben wir die Einsichten der Kritischen Theorie für zu selbstverständlich
genommen? Die „Erziehung zur Mündigkeit“ zur Bundestagswahl neu gelesen.
Müde Gestalten in der „Berliner Runde“: Es waren mal Elefanten
Geisterhaft wie der Wahlkampf insgesamt: Vorbei sind die Zeiten, in denen
es hoch herging in der „Berliner Runde“ nach der Wahl. Ein Gastbeitrag.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.