# taz.de -- Ling Mas Romandebüt „New York Ghost“: Ein Pilz, der die Welt v… | |
> Die Story liest sich wie ein Zeitzeugnis: Von China aus verbreitet sich | |
> eine Krankheit weltweit. Das Buch erschien im Original aber bereits 2018. | |
Bild: In China geboren, in den USA aufgewachsen: Autorin Ling Ma | |
Leere Großstädte, verlassene Bürogebäude, Einreisestopps, Atemschutzmasken | |
und eine Krankheit, die sich von China aus in der Welt verbreitet: Der | |
Roman „New York Ghost“ liest sich wie ein Zeugnis der vergangenen | |
eineinhalb Jahre. Dabei ist das Debüt der sinoamerikanischen Autorin Ling | |
Ma bereits 2018 in den USA erschienen – eine gefühlte Ewigkeit, bevor die | |
Worte „Corona“ und „Pandemie“ in den weltweiten Wortschatz übergingen. | |
Auch in „New York Ghost“ beginnt das alltägliche Leben mit der Verbreitung | |
einer Krankheit auseinanderzufallen. Hier ist es kein Virus, der von Mensch | |
zu Mensch übertragen wird, sondern ein Pilz, eingeführt durch Exportgüter | |
aus China, der sich haltlos verbreitet. | |
Das Shen-Fieber, benannt nach der Unterprovinz Shenzhen (erinnert heute an | |
Trumps rassistische Bezeichnung von Corona als „Chinavirus“), das der Pilz | |
auslöst, verwandelt die Infizierten in durch Automatismen gesteuerte | |
Zombies und die Welt in eine postapokalyptische Dystopie. | |
Die wenigen, die sich noch nicht infiziert haben – wobei unklar bleibt, was | |
sie immun macht –, ziehen herum, plündern Shoppingmalls und Privathaushalte | |
und töten als vermeintliche Erlöser*innen diejenigen, die als lebende | |
Tote keine Ruhe finden. Ich-Erzählerin Candace Chen schließt sich einer | |
solchen Gruppe an, nachdem sie als scheinbar einzige Überlebende New York | |
verlässt. | |
## Sinnentleerte Routinen | |
Die Erzählung rund um die Zombie-Apokalypse und der ihr traditionell | |
gegenüberstehenden Streitkraft Überlebender [1][hält nichts bereit, das es | |
so nicht schon in zig Geschichten dieses Genres gegeben hätte.] Spannend | |
ist hier aber das Verhalten, in das die lebenden Toten verfallen und das | |
fast schon parodistisch wirkt. So faltet eine Verkäuferin, der bereits der | |
Unterkiefer fehlt, in einer Boutique immer wieder dieselben T-Shirts | |
zusammen. | |
Eine Familie dagegen vollzieht im Endlosloop ihr Abendessen auf unbenutzten | |
Tellern. Selbst wenn alles vorbei ist, hält der Mensch noch an seinen nun | |
mehr sinnentleerten Routinen fest, scheint es. Schon hier lassen sich | |
Parallelen zur aktuellen Pandemie erkennen, in der die Prioritätensetzung | |
oft willkürlich erscheint. | |
Mit einem zweiten Handlungsstrang schafft es Ma raus aus dem Fantastischen, | |
rein in den Horror der Realität – und der ist das eigentlich Spannende. In | |
ihm ist das Shen-Fieber zunächst noch eine bloße Meldung aus fernen Teilen | |
der Welt, ohne wirklichen Bezug zu Candace’ Alltag in New York. Sie | |
arbeitet in einem großen Verlagshaus und betreut den Vertrieb kitschiger | |
Bibel-Sonderausgaben. | |
Wirklich brauchen tut diese keiner, da in Mas Erzählung quasi jede*r | |
bereits eine Bibel besitzt. Um aber dennoch weiter Exemplare zu verkaufen, | |
werden sie unter anderem mit Edelsteinen fragwürdiger Herkunft besetzt. Die | |
Herstellung findet unter schlechtesten Arbeitsbedingungen ausgerechnet dort | |
statt, wo das Shen-Fieber zuerst ausbricht. | |
## Homeoffice, Masken, Desinfektion | |
Dessen weitere Verbreitung liest sich auf bedrohliche Weise so wie das, was | |
[2][seit Sars-CoV-2 Wirklichkeit] geworden ist: Arbeitsplätze werden | |
desinfiziert, wer kann – vor allem Menschen in privilegierten Positionen –, | |
zieht ins Homeoffice, Masken werden zur Pflicht und ihre Gegner*innen | |
lauter: „die Langsameren von uns hinkten noch beim Leugnen hinterher.“ | |
Ma, die 1983 in China geboren wurde und als Kind mit ihren Eltern in die | |
USA zog, verwebt die Erzählung der aufstrebenden Pandemie mit | |
autobiografischen Aspekten ihrer eigenen Migrationsgeschichte. So teilt | |
auch ihre Protagonistin die Erfahrungen des Aufwachsens in einem Land, | |
dessen Sprache ihre Eltern kaum sprechen, [3][die aber immer hart arbeiten, | |
damit es ihrem einzigen Kind an nichts fehlt.] | |
Den in China zurückgelassenen Familienmitgliedern werden bei Besuchen stets | |
Luxusgüter mitgebracht. Als Candace erwachsen ist und ihre Eltern | |
verstorben sind, ist der Kontakt zu ihrer Heimat aber längst abgerissen. | |
Erst durch ihren Job und den von ihr zu kontrollierenden | |
Produktionsprozessen reist sie wieder in das Land, das ihre Eltern | |
verließen. | |
In den Fabriken fällt Candace auf, was diese Welt aufrechterhält, wer die | |
eigentliche Arbeit tätigt, die sie von ihrem schicken New Yorker Büro im | |
Grunde nur mehr outsourcen muss. Mit bitterer Ironie blickt Ma auf heutige | |
Arbeitsstrukturen und das Konsumverhalten der Menschen, beides geprägt | |
durch eine Globalisierung, die am Ende nicht nur Produkte um die Welt | |
sendet, sondern mit ihnen eben auch eine tödliche Krankheit. | |
So prophezeit bereits der erste Satz im ersten Kapitel, was beinah | |
universell klingt: „Das ENDE beginnt, noch bevor man sich dessen bewusst | |
ist. Es fällt einem überhaupt nicht auf.“ | |
2 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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