# taz.de -- Antiquar über Trauer um Russland: „Eine verschmähte Liebe“ | |
> Gottwalt Pankow hat in seinem Antiquariat am Hamburger Michel russische | |
> Oppositionsliteratur ins Schaufenster gestellt. Er konnte nicht anders. | |
Bild: Gottwalt Pankow in seinem Antiquariat | |
taz: Warum haben Sie russische Oppositionsliteratur in die Auslage Ihres | |
Antiquariats gelegt, Herr Pankow? | |
Gottwalt Pankow: Es bedarf unbedingt des Widerspruchs gegen das, [1][was im | |
Moment von Russland ausgeht], oder konkret von Herrn Putin, der natürlich | |
seine ganzen Gefolgsleute hat. Ich bin da ganz emotional: Es geht um zwei | |
Völker, die darunter leiden. Das eine ist natürlich die Ukraine selbst, die | |
sich durch den [2][Maidan-Aufstand freigekämpft] hatte. Es geht mir aber | |
auch um das russische Volk, das immens leidet unter diesem Regime und das | |
in der Zukunft weiterhin unter dem Stigma zu leiden hat, das man ihm jetzt | |
verpasst. Ich frage mich: [3][Wo ist die Opposition]? Gut, wir wissen es: | |
Die Köpfe sind im Gefängnis, sind tot, sind vergiftet und erschossen | |
worden. Aber wo ist das breite Volk? | |
Was macht Sie so emotional dabei? | |
Ich bin jetzt 76. Ich hatte das Glück, in Friedenszeiten geboren worden zu | |
sein. Mithilfe der Siegermächte wurde hier eine Demokratie eingeführt, wir | |
haben einen gewissen Wohlstand erreicht, und die Demokratie war bis vor | |
Kurzem doch stabil. Soll ich jetzt am Ende meines Lebens, wobei ich nicht | |
wichtig bin dabei, schon wieder einen Weltkrieg erleben? Was ist denn das, | |
dass die Menschheit es nicht aushält, mal eine Generation in Frieden zu | |
leben? Ich bin jetzt zu alt für den Fürstenmord, und Putin würde mich auch | |
nicht an sich heranlassen, sondern er würde mich [4][an dem langen Tisch, | |
an dem er die Leute immer sitzen lässt], verhungern lassen. Deswegen habe | |
ich gedacht, ich muss irgendwie darauf reagieren, mit den Mitteln, die ich | |
habe. | |
Ich hänge noch an dem, was Sie zum russischen Volk gesagt haben. Die | |
Oppositionsliteratur in Ihrer Auslage, die ja weitgehend unter Stalin | |
entstanden ist, verweist gerade auf dieses andere Russland, wo Leute sich | |
eben nicht weggeduckt haben. | |
Ich habe bei dem Material, das ich da aufstelle, natürlich nur das zur | |
Verfügung gehabt, was bei uns hier in den Regalen steht. Das ist ein | |
bisschen zufällig. [5][Majakowski] … | |
… Pasternak habe ich gesehen … | |
Daneben stehen [6][Marina Zwetajewa] und Sokolov. | |
Können Sie mir bei den beiden auf die Sprünge helfen? | |
[7][Sokolov] ist der jüngste von allen, 1943 geboren, lebt heute in den | |
USA, hat aber eine sowjetische Sozialisation. Zwetajewa ist 1892 geboren … | |
Jetzt dämmert es mir langsam, sie war Lyrikerin, oder? | |
Ja, auch. Und dies hier ist eine Essaysammlung, die sie „Ein gefangener | |
Geist“ genannt hat. Das war jetzt keine sehr bewusste, kohärente Auswahl, | |
das geht da ganz pragmatisch: Was haben wir denn und welche Namen scheinen | |
unbelastet. Wir haben ja auch die Kunst ausgestellt, vertreten durch | |
Malewitsch, und ein Buch über die russische Filmkunst. Und Anna Pawlowna, | |
die Ballettöse, ist hier ausgestellt, die steht für das Ballettschaffen. | |
Warum haben Sie die Todesanzeige von [8][Alexei Nawalny] danebengehängt? | |
Wir haben seine Tätigkeit und seinen Mut lange verfolgt und waren schon | |
immer in Sorge, dass er eines Tages vergiftet wird oder irgendein Wächter | |
ihn erschlägt. Nun ist er ja auch gestorben. In der Osterzeit erzählte | |
jemand im Deutschlandradio von Jesu Schicksal, der ja zurückgeht nach | |
Jerusalem. Er geht zurück in die Höhle des Löwen und musste ja wissen, und | |
wusste es wahrscheinlich auch, dass sie ihn da umbringen werden. Ich will | |
Nawalny nicht mit Jesus gleichsetzen. Aber irgendwie dachte ich, das ist | |
dieselbe Haltung, die Nawalny zeigte: Ich gehe dahin, wo ich gehört werde, | |
wo ich gebraucht werde, ich will mit meinen Leuten reden. | |
Werden Sie auf das Schaufenster angesprochen? | |
Nicht täglich. Wenn, dann zustimmend, aber nicht so sehr in die inhaltliche | |
Tiefe gehend. | |
Wenn Kund:innen zu Ihnen kommen, nach welchen russischen Autor:innen | |
fragen sie? | |
Die Klassiker sind gefragt, Dostojewski, Gogol. Gorki vielleicht nicht mehr | |
so stark. Es geht aber vor allen Dingen um die sowjetische Zeit, die heute | |
noch interessiert. Das war eine sehr spannende, künstlerische und | |
geistesgeschichtliche Phase, und es waren äußerst kreative Leute, die man | |
ja auch lange gewähren ließ und förderte, denn das war der Ausdruck des | |
neuen Menschen. Bis man merkte, da ist aber auch kritisches Potenzial. | |
An wen denken Sie da? | |
Gerade kürzlich fragte jemand nach Solschenizyn. Boris Pasternak ist auch | |
immer noch interessant, die meisten denken an „Doktor Schiwago“, die | |
wenigsten wissen, dass er auch [9][ein großartiger Lyriker] war. | |
Solschenizyn hat sich ja in seinen letzten Jahren [10][sehr mit Putin | |
angefreundet]. | |
Ja, das ist auch ein Problem. Aber Putin, dieses blonde Jüngelchen in den | |
ersten Jahren, da dachte man doch: Gott, wie niedlich, der guckt so | |
unschuldig. | |
KGB-Offizier, der er war. | |
Der hat die Leute bezirzt, das hat nicht nachgelassen. Dass Schröder heute | |
noch zu ihm hält, na gut, das ist sein Problem. Ich erwähne es nur | |
deswegen, weil ich mich selbst immer als links empfand und guckte, was | |
macht die Sozialdemokratie, was machen die Grünen? Ich hatte in Göttingen | |
Lehramt studiert, wo Schröder in höheren Semestern dann ja auch war. Man | |
kannte ihn so ein bisschen auf dem Campus und er war für mich kein | |
Sympathieträger. | |
Das heißt aber, das Antiquariat war damals gar nicht Ihr Ziel? | |
Ich hatte ja das Glück, keine Lehrerstelle zu bekommen. Ich meine, es war | |
auch unklug, Deutsch zu studieren, es gab schon zu viele Deutschlehrer. | |
Dann habe ich meine Bewerbungen eingestellt, bin in das Antiquariat meines | |
Schwiegervaters gegangen und habe mich ausbilden lassen zum Buchhändler mit | |
Schwerpunkt Antiquariat. Meine Frau war sowieso schon während des Studiums | |
und danach dort. | |
Sie sagten ein paarmal, dass dieser Krieg Sie mit besonderem Zorn erfüllt. | |
Haben Sie ein besonderes Verhältnis zu Russland? | |
Es ist teilweise auch eine verschmähte Liebe. Als ich Student war und noch | |
Theologie studierte, hatte ich ein ganz anderes Russlandbild, da las uns | |
unser Professor in seiner Freizeit Dostojewski vor. Dann bin ich zweimal | |
drüben gewesen, aus einer Begeisterung für dieses Land, für dieses Volk. | |
Man sieht dort diese schönen Zwiebeltürme und vergisst das Gedicht von | |
Brecht, in dem er die Frage stellt: Wer hat das alles gebaut, der Zar? | |
Nein, da haben die Leibeigenen ihren Buckel dafür hingegeben, damit dieser | |
schöne Turm noch von uns bewundert werden kann. | |
Haben Sie die Frage auch gestellt? | |
Das haben wir damals nicht gesehen. Alle Klischees haben wir bestätigt | |
gefunden, die wir kannten: Diese weite Landschaft, und dann winkten uns die | |
Arbeiterinnen mit ihren Kopftüchern und ihren wattierten Jacken zu. Es war | |
ein Zug aus dem Westen, und wir winkten zurück und fühlten uns großartig. | |
Und dann, 1968, wollte ich eine Arbeit schreiben, saß bei meiner | |
Großmutter, damit ich isoliert wäre, und guckte im Fernsehen den Einmarsch | |
in Prag an. Spätestens das gab mir einen Knacks. Warum gehen die da mit | |
Panzern hin? Die Tschechen wollen freie Verhältnisse haben, die wollen so | |
leben wie wir. Da kam alles ins Wanken und Schwanken. | |
Und heute? | |
Im Moment bin ich völlig ratlos, und es ist auch nicht mehr nötig, jetzt | |
auf die letzten Jahre, das zu klären. Meine Frau sagt schon lange: Wir | |
müssen davon wegkommen, die Probleme immer zu nationalisieren oder zu | |
personalisieren. Es ist einfach der Mensch, die Gattung Mensch, die | |
unfertig ist. Selbst ein Wurm ist vielleicht komplexer im Umgang mit seinen | |
Problemen. Wir haben viele, viele Jahre gebraucht, um zum Beispiel unter | |
den christlichen Konfessionen friedliches Miteinander zu schaffen. Aber | |
inzwischen prägen wir uns neue Fehler ein. | |
Gibt es hier am Michel jetzt noch russische Touristinnen oder Touristen, | |
die vorbeikommen und die Auslage wahrnehmen? Die müssten natürlich dann | |
auch überhaupt erst Deutsch lesen können. | |
Ich hatte eine Zeit lang auch noch Putins Konterfei mit einer kleinen | |
Bemerkung hierhingeklebt. | |
Was für ein Bild war das? | |
Da blickt Putin mit verklärtem Blick himmelwärts und zündet eine Kerze an. | |
Heutzutage kann man ja alles mit Google übersetzen, da stand etwas in dem | |
Sinne von: Mütterchen Russland, ist das wirklich dein Sohn? So hing es da | |
ein paar Wochen, darauf hat keiner reagiert. Vielleicht haben sie es nicht | |
gesehen. Ich habe es nicht so riesengroß gemacht, ich will nicht | |
plakatieren hier. | |
Dabei ist es Ihr Laden. | |
Ich muss auch immer bedenken, dass ich nicht alleine bin. Ich stehe zwar so | |
ein bisschen für die inhaltliche Ausrichtung, aber meine Frau ist mit im | |
Geschäft, ich habe zwei Angestellte – ich möchte sie jetzt nicht | |
irgendwelchen Situationen aussetzen, wie wir sie schon erlebt haben, wo sie | |
sich plötzlich verteidigen sollen. | |
Wegen der Auslage? | |
Ja, daran erinnere ich mich noch. Die beiden Herrschaften sind schon längst | |
nicht mehr am Leben – das sage ich nur, damit man weiß, aus welcher | |
Sozialisation sie kommen. Da ging es um das moderne Heine-Denkmal auf dem | |
Rathausmarkt. Wir dachten, wir stellen mal die verschiedenen Broschüren zu | |
Heine-Denkmalen aus, die es in Hamburg gab und gibt. Daraufhin kamen | |
Nachbarn aus unserem Stadtteil herein und haben uns ein bisschen angemacht, | |
wie man sagt. | |
Was war die Kritik? | |
Sie kritisierten, dass man Heine noch ein Denkmal hinsetzte. Es gebe doch | |
schon so viel, und es gebe ja auch andere Dichter. Wir haben versucht, das | |
zu verteidigen, und waren verhältnismäßig zurückhaltend dabei. Es war eine | |
junge Kundin im Geschäft, die die Diskussion mitkriegte. Die Leute gingen | |
unzufrieden, und sie sagte: Warum haben Sie denen nicht die Meinung gesagt? | |
Was haben Sie geantwortet? | |
Wir sagten: Wir haben geäußert, was wir für verantwortbar hielten, aber | |
wenn Sie damit nicht einverstanden waren, warum haben Sie sich nicht auch | |
dazu geäußert? | |
23 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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