| # taz.de -- 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion: Die russische Krankheit | |
| > Staat und Gesellschaft führen ein Eigenleben und der ideologische Überbau | |
| > verherrlicht ein überkommenes Weltbild. Russland steckt die Sowjetunion | |
| > tief im Mark. | |
| Bild: Junge Aktivisten der Partei "Einiges Russland" freuen sich über Putins W… | |
| MOSKAU taz | "Wird die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?", fragte Andrei | |
| Amalrik 1970. Das Buch des Dissidenten mit dem gleichnamigen Titel erschien | |
| nur im Westen. In der "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" (UdSSR) | |
| durfte man nicht offen über das Ende des Kommunismus nachdenken. Zumal die | |
| UdSSR 1970 gerade im Zenit stand. Als nukleare Macht war sie den USA | |
| ebenbürtig, als Exporteur von Ideologie und Waffen in die Dritte Welt sogar | |
| überlegen. Auch im Westen stellte kaum jemand ihre Überlebensfähigkeit in | |
| Frage. | |
| Ende 1991 war es aber so weit. Am 25. Dezember verließ Präsident Michail | |
| Gorbatschow verbittert den Kreml, am selben Abend wurde die sowjetische | |
| Flagge eingezogen. Gorbatschow war ein Held des Rückzugs, der als | |
| Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) noch | |
| versuchte, das System in einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu | |
| verwandeln. Nach der Öffnung, die mit der "Perestroika", dem vorsichtigen | |
| Umbau der Strukturen in Politik und Wirtschaft, einsetzte und mit | |
| "Glasnost" auch ein Stück Meinungsfreiheit einräumte, wurde der vorsichtige | |
| Reformer jedoch zu einem Getriebenen. | |
| Die Demontage des Systems vollzog sich gegen seinen Willen. Auslöser des | |
| Zusammenbruchs war ein Putsch reaktionärer Altkommunisten gegen | |
| Gorbatschow. Der operettenhafte Staatsstreich 1991 blieb eine Episode, doch | |
| er beschleunigte den Zusammenbruch. Die Wirtschaft war ineffektiv, das | |
| Imperium balancierte am Rande des Bankrotts. Die KPdSU regierte nicht mehr, | |
| sie verwaltete nur noch die Krise. Die Gesellschaft war vorher schon in | |
| ihre Nischen abgetaucht. | |
| ## Staat und Gesellschaft führen Eigenleben | |
| "Wir kennen das Land nicht, in dem wir leben", warnte bereits 1984 | |
| Gorbatschows Vorvorgänger Juri Andropow. Andropow sprach das Problem an, | |
| das Russlands Geschichte durchzieht: Staat und Gesellschaft führen jeweils | |
| ein Eigenleben. Die herrschende Kaste kappt die Verbindung zum Volk. Als | |
| das Zarenreich 1917 unterging, standen dem Zaren nicht einmal die | |
| Großherzöge zur Seite. Gorbatschow hat 1991 die gleiche Erfahrung gemacht. | |
| Die Institutionen der Supermacht und die Staatspartei KPdSU verschwanden im | |
| Orkus, kaum jemand nahm Notiz davon. | |
| Viermal in 500 Jahren verlief es ähnlich. "In einer kritischen Situation | |
| verrottet der Staat wie eine Tomate; der Träger konstruktiver Funktionen | |
| verschwindet einfach", konstatiert der russische Historiker Alexander | |
| Achieser - für ihn ein wiederkehrendes Motiv russischer Entwicklung. Im | |
| Westen sei ein Staatskollaps fast undenkbar, da in kritischen Momenten die | |
| Gesellschaft zu Hilfe eile, den Staat zu stützen oder ihn durch alternative | |
| Strukturen zu ersetzen. In Russland gleicht der Staatsverfall einer | |
| nationalen Katastrophe. Die Untertanen sind gleichgültig, und je schwächer | |
| der Staat erscheint, desto weniger sind sie bereit, sich zu engagieren. | |
| Da das Volk den Staat nicht als Ergebnis eigenen Wirkens auffasst, bleibt | |
| es teilnahmslos. Entweder lehnt der Untertan alles Staatliche strikt ab wie | |
| am Ende der UdSSR - oder er verfällt in einen Zustand quasireligiöser | |
| Verehrung, auch ein Phänomen der ersten Amtsperioden Wladimir Putins. Der | |
| neue Messias kehrte nach dem demokratischen Experiment unter Boris Jelzin | |
| wieder zum autoritären Zentralismus zurück. | |
| ## Russland steht auf tönernen Füßen | |
| Der Westen war vom Zusammenbruch der UdSSR überrascht worden. Die | |
| "Sowjetologen" hatte nichts geahnt, geschweige denn prognostiziert - sie | |
| hatten sich von der Fassade des Imperiums täuschen lassen. Ein Jahrzehnt | |
| später sollte sich das wiederholen. Nun erlag der Westen dem neuen | |
| Kremlchef Putin, der Russland zur neuen Energie-Supermacht ausrief. Doch | |
| Russland steht auf tönernen Füßen, hat eine Infrastruktur, dessen | |
| ausgebautes Straßennetz kürzer ist als das der Schweiz. | |
| Die Sowjetunion war nicht in der Lage, der Massenträgheit Herr zu werden | |
| und die Grundlagen einer modernen Arbeitskultur zu schaffen. Zwanzig Jahre | |
| nach dem Kollaps der UdSSR steckt Russland wieder in einer Sackgasse. Die | |
| UdSSR stürzte über Zentralismus, Autoritarismus, Vetternwirtschaft, | |
| Korruption, mangelnde Produktivität, über die Abhängigkeit vom | |
| Rohstoffexport und über ein Gesellschaftsverständnis, in dem der Regierte | |
| keine eigene Rolle spielen darf. Dabei wirkte und wirkt eine Bürokratie | |
| mit, deren Beamtenschaft sich seit 1991 verdoppelt hat. | |
| Moskau hat die Gründe des Niedergangs nie aufgearbeitet. Stattdessen | |
| stülpte es dem Land wieder das alte Korsett über und klammerte sich an | |
| "Wahrheiten" - die der zivilisatorischen Sonderrolle etwa, verknüpft mit | |
| einem missionarischen Auftrag - ganz in der Tradition von Kommunismus und | |
| Weltrevolution. Der Umbau von Staat und Gesellschaft bleibt stecken; findet | |
| Modernisierung statt, beschränkt sie sich wie bei Stalin auf die Erneuerung | |
| des Maschinenparks. | |
| ## Eigenständiges Denken wurde erstickt | |
| Schon die Bildungsoffensive, die mit der Industrialisierung der dreißiger | |
| Jahre einherging, versetzte die Obrigkeit in Unruhe. Die neue gebildete | |
| Schicht durfte kein autonomes Subjekt gebären. Eigenständiges Denken wurde | |
| erstickt. Denk- und Lebensweise blieben idealisierten Werten der | |
| Bauerngemeinde verbunden. Vor dem selbständig denkenden Bürger fürchtet | |
| sich die Elite auch heute. Deshalb lebt im Bildungswesen immer noch der | |
| sowjetische Geist fort. | |
| Die KPdSU berief sich zwar auf den Marxismus, doch sie setzte deren | |
| Schlüsselbegriff außer Kraft. Marx dachte Arbeitskraft und | |
| Produktionsmittel als eine Einheit, die sich dialektisch weiterentwickle | |
| und die die treibende Kraft war. Doch Theorie und Fakten sind in der | |
| russischen Vorstellungswelt zweitrangig, ihr Denken folgt einer anderen | |
| Logik als im Westen. Dies erschwert den Umgang mit Moskau zuweilen. | |
| Russland ist einem ganzheitlichen Weltverständnis verhaftet, in dem sich | |
| die einzelnen Lebens-, Wissens- und Glaubensbereiche noch nicht | |
| ausdifferenziert haben. | |
| Das Gefühl beherrscht das Faktum. So rührt etwa die Neigung, heute noch die | |
| Welt in Freund und Feind aufzuteilen, daher. Die Welt muss überschaubar | |
| bleiben. Und so weist das alte mit dem neuen und dem noch älteren Russland | |
| viele Parallelen auf. Schafft Russland keinen Paradigmenwechsel, so warnt | |
| Schriftsteller Wladimir Sorokin, hat es nur noch eine Funktion - als | |
| "17-spurige Autobahn zwischen der EU und China". | |
| 23 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
| Klaus-Helge Donath | |
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