# taz.de -- Debatte Proteste in Russland: Vor dem Bürgerkrieg | |
> Protest ist das "must to have" der Saison in Moskau. Doch die Provinz | |
> schmäht den neuen Bürgersinn. Und im Kaukasus träumt man vom Kalifat. Das | |
> passt in die russischen Paradoxien. | |
Bild: Weiter auf der Straße: enttäuschte Bürger, die in Moskau demonstrieren. | |
Wenn nicht Putin, wer denn dann?" Das ist die zurzeit populärste Floskel in | |
Russland. Wir ersticken fast, gehen aber trotzdem zur Wahl, weil die | |
"übrigen noch unerträglicher" sind; weil es "keine Alternativen" gibt oder | |
"alle anderen Narren und Vaterlandsverräter" sind - so geht das endlos | |
weiter. | |
In Wirklichkeit sind die Menschen nur zu träge, sich einer Wahl zu stellen. | |
Sie haben es verlernt. Wieso sollte man einen eigenen Kandidaten | |
aufstellen, streiten und ein Risiko eingehen? Sich dabei womöglich noch | |
verheben, wenn ohnehin alles ohne dein Zutun im Voraus entschieden wird? | |
Aufschlussreich war, wie manche Provinzbewohner im Netz auf die Demo vom | |
10. Dezember in der Hauptstadt reagierten: "Wer weit weg von Moskau lebt, | |
dem kommt so ein Blödsinn wie Demonstrieren nicht in den Sinn. Wir kommen | |
mit Putin ganz gut klar, wir sind es gewohnt, mit dem eigenen Kopf zu | |
denken und uns auf uns selbst zu verlassen. Wir schämen uns für euch." | |
Oder: "Unsere Moskauer, ihr Ärmsten! Ihr habt doch keine Ahnung, wie der | |
Rest des Landes lebt. Für euch sind 5 Grad Frost schon unerträglich. Kommt | |
hierher, bei minus 40 Grad klemmt ihr gleich den Schwanz ein: Wenn ihr nur | |
mal einen Tag so leben müsstet wie das übrige Volk, ihr würdet den | |
Unterschied spüren." | |
## Glamourlöwin beim Protest | |
Das elementare Erwachen eines zivilen Bewusstseins hält der Beobachter aus | |
der Provinz für eine Marotte von überfressenen Nichtstuern; die | |
Verteidigung von Grundrechten für Sabotage und parasitäres Verhalten; | |
Demonstrieren auf der Straße für ein dummes Spielchen und ein Zeichen | |
schlechter Erziehung. Jahrelang hat man uns das eingebläut, bei vielen | |
sitzt das schon im Unterbewusstsein. | |
Übrigens, die Bewegung oder besser: das Erwachen, was es hoffentlich ist, | |
das in Russland gerade vor sich geht, hat das gesellschaftliche Bewusstsein | |
so aufgerüttelt, dass Demonstrieren zu einem Must-have der Saison geworden | |
ist. Auf dem Bolotnajaplatz waren nicht nur Showstars zugegen, auch | |
Vertreter des "Systems". | |
Eine bekannte Glamourlöwin, Xenia Sobtschak, angeblich Putins Patenkind und | |
die Tochter seines Patrons; auch eine beliebte Fernsehmoderatorin, die | |
Medwedjew offiziell unterstützt und demonstrativ für die Staatspartei | |
stimmte. Zunächst scheint das absurd. Mit etwas Distanz passt es aber voll | |
und ganz in die Paradoxien des russischen Lebens. Hier kann man | |
Vorsitzender einer Partei werden, ohne ihr Mitglied zu sein, ein und | |
derselbe Bürger kann x-mal bei derselben Wahl seine Stimme abgeben. | |
Niemanden stört es, wenn ein Staatsamt mit krimineller Tätigkeit einhergeht | |
usw. Schon allein Wortschöpfungen wie "konservative Modernisierung" oder | |
"souveräne Demokratie" sagen alles. Kurzum, ein Land voller | |
Absonderlichkeiten, ein Land, das einfach fantasiert. | |
## Tote Seelen | |
Ich habe Medwedjew und Putin mal von ziemlich nah betrachten dürfen und bin | |
absichtlich ganz dicht an sie herangegangen. Gute Redner mit eisernen | |
Nerven, zugegeben. Aber völlig uninteressant, tote Seelen. Mit begrenztem | |
kulturellen Horizont. Der Eindruck entsteht, dass die gesamte russische | |
Fernseh- und Kinoindustrie der letzten Jahre die kulturelle Messlatte auf | |
diese kleinkariert-gaunerhafte Schablone gebracht hat: Wo die rauen Sprüche | |
des maskulinen Premiers - wie über die Beschneidung eines Journalisten, das | |
Vernichten von Tschetschenen im Scheißhaus, den Popel aus der Nase bohren - | |
immer mit einem lauten "Hurra" rechnen können. | |
Allerdings, Putin verdient auch Lob. In der Kindheit hat er Kipling | |
gelesen. Jetzt kommt ihm das auch noch zugute: beim Vergleich mit den | |
Banderlogs etwa (den Paria-Affen aus dem "Dschungelbuch"). Jetzt weiß er | |
nämlich, wie er die Protestierenden verunglimpfen kann. Besonders | |
sympathisch ist, Wladimir Wladimirowitsch dabei zu beobachten, wie er sich | |
über seine eigenen KGB-Witze freut und seine Befriedigung nicht verbergen | |
kann. | |
Viele Menschen gehen einfach deswegen demonstrieren, weil sie aufgebracht | |
und beleidigt sind, weil man uns für Vollidioten hält, sozusagen. Eine | |
große Rolle spielen in diesem Prozess gerade jene Innovationen, von denen | |
Präsident Medwedjew so gerne spricht: iPads, Notebooks, soziale Netze, | |
Twitter. | |
Der Premier gehört einer anderen Informationsepoche an, er begreift nicht, | |
was da passiert. Putin ist über die Vorgänge auf der Straße ehrlich | |
erstaunt. Je weiter sich das Internet jedoch verbreitet, desto mehr Leute | |
wenden sich vom Fernsehen ab. Dessen Einfluss wird sinken. Bleibt zu | |
hoffen, dass die Einsicht nicht mit der Zensur des Internets endet. Darüber | |
soll schon nachgedacht werden. | |
## Putin zurück ins Nirgendwo | |
Ich bin gegen Revolution, wie alle meine Bekannten. Niemand will | |
unschuldiges Blut vergießen und das Land zerstören. Wenn wir jetzt aber | |
nicht unsere Unzufriedenheit offen zeigen, ist die Revolution gewiss. | |
Darüber spricht das Volk heute schon. Nach dem Motto: Putin kam aus dem | |
Nirgendwo und dahin schicken wir ihn auch zurück. | |
Was das für ein Aufstand wird - rot oder braun -, ist nicht klar. Aber er | |
wird Russland kaum näher an ein demokratisches Ideal heranführen. Besonders | |
schlimm wird sich das auf die Brennpunkte im Land auswirken. Auf den | |
Kaukasus - hundertprozentig. Das Einzige, was den Bürgerkrieg dort aufhält, | |
ist das Gesetz, wie schwach es auch sein mag. Gleichzeitig (da sind wir | |
wieder bei der Logik des Absurden) ist es dieses in den Dreck gezogene und | |
Vertrauen hintertreibende russische Gesetz, das der Hauptgrund aller | |
dortigen Übel ist. In den Köpfen eines Teils der kaukasischen Jugend reift | |
der zombihafte Mythos eines unabhängigen Kalifats heran. | |
Den Köpfen der Proleten und linken Intellektuellen entsteigt der Mythos | |
eines rein russischen Reiches ohne Kapital und Konsumgesellschaft. Mit den | |
Mythen vermehren sich auch die Phobien: eine jüdische Verschwörung, | |
Nato-Aggression, der Angriff des Kaukasus auf Moskau und, und, und. | |
Je mehr solcher Mytho-Phobien, desto näher rücken Aggression und Aufruhr. | |
Wo ist die Rettung? Nur ein offener Dialog. Eine Form des Dialogs kann die | |
Literatur sein. Ich hoffe, ich lüge mir jetzt nicht in die Tasche. | |
28 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Alisa Ganijewa | |
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