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# taz.de -- Proteste in Russland: "Wir sind die Macht!""
> Erneut demonstrieren in Moskau Menschen gegen die gefälschten Wahlen -
> diesmal sind es sogar bis zu 100.000. Immer mehr fordern auch den
> Rücktritt Putins.
Bild: "Putin, hau ab!" – Demonstration gegen die russische Regierung am verga…
MOSKAU taz | "Wer sind alle diese Leute?" stand auf dem selbstgemalten
Plakat des Demonstranten am Einlass zum Sacharow-Prospekt in Moskau. Die
Opposition hatte zur zweiten Großdemonstration gegen massive Fälschungen
bei den Dumawahlen am 4. Dezember aufgerufen. Zwischen 80.000 und 100.000
Unzufriedene folgten dem Ruf trotz klirrender Kälte - fast doppelt so viele
wie noch vor zwei Wochen.
Den Erfolg hatten die Veranstalter Wladimir Putin zu verdanken. In einer
Fernseh-Fragestunde hatte der Ministerpräsident die Demonstranten der
ersten Protestkundgebung mit den Banderlogs, den Paria-Affen aus Kiplings
"Dschungelbuch", verglichen und das Symbol der Protestierenden, ein weißes
Bändchen, abfällig als Präservativ bezeichnet. Putin ging damit zu weit. Er
verunglimpfte und beleidigte die Bürger nicht nur, sondern zeigte ihnen
auch seine Verachtung.
Die gebildete Mittelschicht, die sich auf der nach dem Sowjetdissidenten
Andrei Sacharow benannten Allee versammelte, will sich diese Demütigungen
nicht mehr bieten lassen. "Ich will freie Wahlen und keinen anstößigen
Präsidenten", meint der Marketingexperte Sergei. Er sei schon lange
unzufrieden, wie die meisten seiner Kollegen. "Jetzt bin ich bereit, mich
zu engagieren", sagt der 38-Jährige.
Er hält ein Schild mit der Forderung hoch, den inhaftierten Ölmagnaten
Michail Chodorkowski freizulassen. In der Nachbarschaft steht eine
langbeinige Dame. "Ich habe es satt - mir steht es bis zum Hals", teilt sie
auf einem Plakat mit.
## "Russland ohne Putin"
Die Demonstranten stellten keine sozialen Forderungen, ihnen ging es um
Werte und die Luft zum Atmen. Als Boris Akunin, Erfolgsautor und
Mitorganisator des Protestes, die Menge von der Tribüne fragte: "Wollt ihr,
dass Wladimir Putin nochmals Präsident wird?", schallte ihm ein donnerndes
Njet entgegen.
Zwei Wochen nach der Auftaktkundgebung wollen die Demonstranten nicht nur
Duma-Neuwahlen. Auch der Ruf nach dem Rücktritt Putins wird lauter.
"Russland ohne Putin" war denn auch die Losung, die die Masse immer wieder
skandierte. Der scheidende Präsident Dmitri Medwedew hatte zwar eine
Liberalisierung des Parteiengesetzes und die Einführung von
Gouverneurswahlen versprochen, um die Lage zu entschärfen.
Die Redner, die das gesamte Spektrum der Opposition repräsentierten - unter
ihnen Intellektuelle, Künstler und Journalisten aller Altersgruppen -
trauen unterdessen den Ankündigungen des Kremls nicht mehr.
## Der neue Volksheld
Für eine Sensation sorgte der unerwartete Auftritt des im Herbst
entlassenen Finanzministers Alexei Kudrin. Er galt lange als enger
Vertrauter Putins. Der unerfahrene und unbeholfene Grenzgänger plädierte
für Neuwahlen und forderte die politische Führung zum Dialog mit der
Opposition noch vor den Präsidentschaftswahlen im März auf, wenn sie keine
Revolution riskieren wolle. Er bot sich als Vermittler an.
Die Menge hörte ihm zwar zu, die Reaktion war jedoch zwiespältig. Kudrins
Kontaktaufnahme mit der Opposition ist ein Zeichen, dass sich die Reihen um
Putin lichten. Auch der einstige Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow
forderte Putin in einem Interview mit dem Radio-Sender Echo Moskwy am
Sonnabend zum Rücktritt auf.
Ganz anders begrüßte die Menge den Star-Blogger Alexei Nawalny, der erst am
Donnerstag aus 15tägiger Haft entlassen worden war. Der Korruptionskritiker
machte seinem Ruf als charismatischer Volkstribun alle Ehre: "Hallo ihr
Banderlogs und Netzhamster", rief er unter Verwendung der verächtlichen
Bezeichnungen Putins für die Internetgemeinde in die Menge. "Ich sehe
genügend Leute, um den Kreml und das Weisse Haus (den Regierungssitz) zu
nehmen", sagte er, "aber wir sind eine friedliche Kraft und werden das
nicht sofort machen. Das nächste Mal sind wir schon eine Million. Wir sind
die Macht", rief der neue Volksheld.
"Wenn wir uns in einem Jahr wiedersehen, ist Russland ein freies Land ohne
Putin", versprach Väterchen Frost, der russische Weihnachtsmann, auf der
Bühne nach vier Stunden bitterster Kälte. "Wir kommen wieder!", antwortete
die Menge einstimmig.
26 Dec 2011
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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