# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Russland: Die Scheinwelt des "Liders" | |
> Regierungschef Wladimir Putin hat den gesellschaftlichen Wandel nicht | |
> verstanden. Das zeigt auch sein Wahlprogramm. Von Reformen steht dort | |
> nichts. | |
Bild: Der Glanz ist weg: Regierungschef Wladimir Putin. | |
MOSKAU taz | Russlands Regierungschef Wladimir Putin kann ein wenig | |
aufatmen. Seine Popularität steigt wieder und auch die Zahl der Bürger, die | |
ihm am 4. März bei den Präsidentschaftswahlen die Stimme geben wollen. Nach | |
Umfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute darf der Premier nach | |
einem Jahresendtief von 40 Prozent wieder mit rund 45 Prozent Zuspruch | |
rechnen. | |
Für den Wiedereinzug in den Kreml würde es reichen. Wenn nicht in der | |
ersten Runde, so doch in der Stichwahl. Vorausgesetzt, es ändert sich in | |
den nächsten Wochen nichts mehr. | |
Doch dafür kann im hoch politisierten Moskau zurzeit niemand bürgen. Nach | |
den aufregenden Wochen des Dezembers, in denen Hunderttausende | |
Demonstranten gegen Wahlfälschungen bei den Dumawahlen auf die Straße | |
gingen, verabschiedete sich Russland in zweiwöchige Neujahrsferien. | |
Erholung, Ruhe und Abstand kommen dem angezählten Premier jetzt zugute. | |
Dennoch liegt die Wertschätzung der Bürger um 20 bis 25 Prozent niedriger | |
als noch vor zwei Jahren. | |
## Glanz ist verschwunden | |
Der "nationale Lider" muss sich zum ersten Mal als Politiker darum bemühen, | |
die Wähler zu überzeugen. Bisher blieb ihm das dank der PR-Agenten des | |
Kreml erspart, die ihn zu einer "von Gott gesandten" Lichtgestalt | |
verklärten. | |
Den Glanz hat Putin verloren, es fällt ihm auch schwer, sich neu zu | |
erfinden. Den gesellschaftlichen Wandel, der hinter den Protesten steht, | |
scheint er nicht zu begreifen. Davon zeugt auch die Veröffentlichung des | |
ersten Teils eines auf 100 Seiten angelegten Wahlprogramms in der Zeitung | |
Iswestija zu Wochenbeginn. | |
Zu Putin gibt es keine Alternative lautet dessen Botschaft, die sich | |
wortreich in Selbstlob ergeht. Auch die "wütenden Bürger", die auf die | |
Straße gingen, hätten ihren Aufstieg zur Mittelklasse seiner | |
Stabilitätspolitik zu verdanken. | |
## Einseitiger Dialog | |
Der Regierungschef fordert die Gesellschaft zwar zu einem Dialog auf, doch | |
will er weder mit der Opposition sprechen noch auf die von den | |
Demonstranten geforderte Veränderung des politischen Systems eingehen. | |
"Heute wird über verschiedene Formen gesprochen, um den politischen Prozess | |
zu erneuern. Worüber aber soll man diskutieren? Darüber, dass die Macht an | |
die ,besseren Leute' übertragen werden soll?", sinniert Putin und zieht | |
sein Gesprächsangebot noch im selben Absatz wieder zurück. | |
Auch inhaltlich ging der Kremlkandidat auf die Forderungen der | |
unzufriedenen Mittelschicht nicht ein, dem kreativsten und | |
bestausgebildeten Teil der Gesellschaft. | |
Nach Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum hatten von | |
den 100.000 Teilnehmern der Großdemonstration an Heiligabend 75 Prozent | |
einen Hochschulabschluss und stuften sich als Gutverdiener ein, unter ihnen | |
viele Unternehmer von Klein- und Mittelbetrieben, was dem Protest die | |
Bezeichnung "Revolte der Zufriedenen" einbrachte. | |
## Almosen helfen nicht | |
Zwar sind alle Altersgruppen vertreten, es dominiert aber die Generation | |
der um die 40-Jährigen. Sie wurde vom Kommunismus nicht mehr entscheidend | |
geprägt und erwies sich für die Indoktrination der Putin-Ära als weniger | |
empfänglich. | |
Diese Schicht erwartet keine Almosen vom Staat, mit denen Putin regelmäßig | |
seine traditionelle Klientel aus Beamten, Militärs und Rentnern bei der | |
Stange hält. | |
Statt materiellen Zuwendungen verlangen sie, dass die Regierung in | |
öffentliche Güter investiert und modernisiert: das Gesundheits- und | |
Bildungswesen, die Infrastruktur und das korrupte Justizsystem. Dies alles | |
sind Leistungen, die jedoch einen funktionierenden Staat voraussetzen. | |
Putin geißelte zwar im Programmentwurf die übertriebene Repression der | |
Sicherheitsorgane gegen das Volk, zu mehr Kritik fehlten ihm Mut und | |
Einsicht. | |
## Eingemauerte Machthaber | |
Zur Entspannung der Lage nach den Protesten hatte Präsident Dmitri | |
Medwedjew noch angekündigt, die Gouverneurswahlen wiedereinzuführen - ein | |
entsprechender Gesetzentwurf wurde am vergangenen Montag vorgelegt - und | |
ein liberales Parteiengesetz zu verabschieden. In Putins Programm steht | |
dazu jedoch kein Wort. | |
Die Machthaber haben sich eingemauert. Sie hoffen, dass der Protest Stück | |
für Stück abflaut. Die Diskussionen in den sozialen Netzen zeugen | |
allerdings eher vom Gegenteil. | |
## Härtere Gangart | |
Der Kreml hat die Initiative aus der Hand gegeben. "Wir dürfen nicht die | |
Massen der Leute außer Acht lassen, die nach den Parlamentswahlen | |
demonstriert haben", sagte selbst der Kremlberater Igor Jurgens. | |
Die Ernennung seines langjährigen engen Vertrauten und Hardliners Sergei | |
Iwanow zum Leiter der Präsidialkanzlei lässt jedoch vermuten, dass sich | |
Wladimir Putin für die Zeit nach den Präsidentenwahlen auf eine noch | |
härtere Gangart einstellt. Die größte Gefahr für den Kreml ist seine | |
mangelnde Flexibilität. Sie leistet dem Protest noch weiteren Vorschub. | |
18 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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