# taz.de -- Putins Polier: Der umtriebige Untergebene | |
> Er gilt als Ideenspender, Souffleur und Erfinder der "Vertikalen der | |
> Macht". Ohne den Einfluss von Wladislaw Surkow würde Russland heute | |
> anders aussehen. | |
Bild: Lange ein Macher im Hintergrund und seit Dienstag stellvertretender Regie… | |
MOSKAU taz | Jeder Körper verändert unter anhaltendem Druck allmählich | |
seine Form. In der Politik sei das nicht viel anders als in der | |
Metallverarbeitung, meint Wladislaw Surkow. In den 1980er Jahren hatte er | |
einmal ins Studium der Metallurgie hineingeschnuppert, es dann aber sein | |
lassen. | |
Stahl und Leichtmetalle waren nicht seine Welt, das Austesten von | |
Direktionskonstanten hingegen schon. Ermittlung von Bruchstellen, das | |
Prüfen von Belastbar- und Widerstandsfähigkeit menschlichen Materials | |
gehören vordringlich zu seinen Aufgabe. Der Endvierziger war 12 Jahre lang | |
Vizechef des Präsidialamtes und ist seit Dienstag stellvertretender | |
Regierungschef. | |
Er zählt zur Troika der mächtigsten Männer im Staat. Putin und Medwedjew | |
schätzen den umtriebigen Untergebenen, dessen offizielle Zuständigkeiten | |
rund zwei Dutzend Jobs umfassen. Surkow dient dem Kreml als Ideenspender | |
und Souffleur, seit Wladimir Putin das Amt 2000 vom Vorgänger Boris Jelzin | |
ererbte. | |
Wenn es geht, meidet der hagere Vizechef mit dem weichen Engelsgesicht und | |
diabolischem Blick die Öffentlichkeit. Interviews gibt er nur, wenn sie ins | |
strategische Konzept passen. All das verstärkt die undurchsichtige Aura. Je | |
geheimnisvoller der Nimbus, desto effektiver die Macht. Geheimnisse umgeben | |
den Sohn einer Russin und eines Tschetschenen schon seit seiner Geburt. | |
## Verheimlichte tschetschenische Wurzeln | |
Wurde Wladislaw 1962 oder 1964 geboren? Wuchs er im Kaukasus oder im | |
russischen Lipezk auf? Wann änderte er den tschetschenischen Familiennamen | |
Dudajew in den russischen Surkow? Vor allem: Warum gab er, im Zenit der | |
Macht und Anerkennung, die verheimlichten tschetschenischen Wurzeln preis? | |
War es ein Akt freiwilliger Selbstunterwerfung gegenüber der Führung, nach | |
dem Motto: Lasst mich gewähren, ich kenne meinen Platz? Surkow erfindet | |
sich - wie Russland - immer einmal wieder neu. | |
Seit den Demonstrationen gegen die Wahlfälschungen bei den Dumawahlen | |
Anfang Dezember meldet sich der Chefideologe indes häufiger öffentlich zu | |
Wort. Das System Putin, Surkows handgefertigtes Konstrukt, gerät ins | |
Schwanken. Von der Volatilität seiner Kunstwelten hatte der Schöpfer schon | |
etwas geahnt. Im privaten Kreis soll er schon vor längerer Zeit geäußert | |
haben, über dem Land schwebe eine "Illusion von Stabilität". | |
Der Grund für diese Zweifel ist wohl, dass die Wirklichkeit in der | |
russischen Politik nur eine Nebenrolle spielt und von einem utopischen | |
Narrativ ohne Utopie ersetzt wird. Ohne den Einflüsterer wäre die | |
Entwicklung in Russland nach Jelzin anders verlaufen. Surkow ist eitel, | |
arrogant und ein Virtuose der Macht. Niemals würde er öffentlich seinen | |
wirklichen Einfluss preisgeben. | |
Im Gespräch mit einem US-Magazin 2002 deutete er vorsichtig an: Putin hätte | |
die "Vertikale der Macht" anfangs nicht für notwendig gehalten, ja, sogar | |
gezweifelt, ob die Straffung der Machtmechanismen wirklich die passende | |
Therapie für Russland sei. Surkow und eine Handvoll Polittechnologen | |
drechselten die "Vertikale", die zur flächendeckenden Rezentralisierung des | |
Staates führte und zum Synonym der Ära Putin wurde. | |
## Surkow setzte Blaupausen um | |
Alleinige Entscheidungskompetenz lag seither wieder beim Kremlchef. Hätten | |
in den 89 Regionen der Föderation weiterhin 89 Provinzfürsten geherrscht, | |
davon ist Surkow überzeugt, wäre Russland zugrunde gegangen. Der Architekt | |
drückte das Modell durch. Damals ging das noch einfacher. Putin war ein | |
Neuling im Kreml - ohne eigene Hausmacht und Erfahrungen. Auf den | |
Baustellen draußen im Land setzte Surkow die Blaupausen um, freundlich ging | |
es dabei nicht zu. | |
Doch auch in der Rolle des Poliers erwies er sich als unersetzbar. Die | |
Ausdauer zum Formen brachte er mit - die "Vertikale der Macht" stand nach | |
kurzer Zeit. "Gelenkte Demokratie" nannte der Chefideologe das | |
architektonische Gesamtwerk. Die Parteien, die Duma, der Föderationsrat, | |
die Ministerialbürokratie, die Gouverneure, Medien, Justiz und selbst die | |
Zivilgesellschaft, die eine handverlesene Gesellschaftskammer doubelt, | |
wurden auf Linie gebracht. | |
Auch die Partei der Macht, das Vereinigte Russland, ist seine Kreation und | |
filigrane Handarbeit. Danach machte sich der lesehungrige Autodidakt an ein | |
neues Megaprojekt. Die "souveräne Demokratie" wollte dem Staat eine | |
geschmeidige Ideologie unterlegen und dem Volk frischen Glauben einhauchen. | |
Seit das Imperium verloren ging, durstet es Russland nach Erbauung und | |
geistigem Halt. | |
Rastlos hastet der Sinnstifter von Idee zu Idee. Das Land ist groß, die | |
Probleme sind grenzenlos, und Russland war in den Augen der Obrigkeit immer | |
eine Baustelle ohne Bauauflagen, die zu rücksichtsloser | |
Selbstverwirklichung einlud. Genau der richtige Ort für jemanden wie den | |
ehemaligen Musterschüler Surkow, der sich für ein verkanntes Genie hält. | |
Eine postmodernistische Bühne, wo er als despotischer Regisseur den Ton | |
angibt. Die "souveräne Demokratie" war der Gegenentwurf zur Demokratie nach | |
westlichem Muster, von dessen Einflüssen sich Russland abgrenzen sollte. | |
## Pate Carl Schmitt | |
Surkow denkt Souveränität vom Staat aus, dessen Nationalstaatlichkeit es | |
vor dem Hintergrund der Globalisierung zu stärken gelte. Unschwer ist darin | |
das alte Paradigma zu erkennen, in dem sich der russische Staat | |
ausschließlich über seine äußere und imperiale Funktion begreift. Ordnung | |
im eigenen Haus zu schaffen, Staat und Gesellschaft zu modernisieren, | |
interessiert den Regisseur nicht wirklich. Dem Entwurf der "souveränen | |
Demokratie" stand Carl Schmitt Pate, Kronjurist des "Dritten Reiches". | |
Den theoretischen Wegbereiter des Führerstaates weist der Eklektiker jedoch | |
nicht als geistigen Vater aus. Ihm schien das dann doch zu gewagt. Zumal | |
der Sieg über den Faschismus eine der wenigen ideologischen Säulen des | |
Regimes und der nationalen Idee darstellt. Die Mitwirkenden der | |
Staatspartei und systemkonformen Opposition wurden zu Statisten degradiert, | |
werden aber gut bezahlt und erhalten mannigfaltige Möglichkeiten zu | |
lukrativem Nebenerwerb. | |
Als Politkomparsen wurden sie angeheuert, und daher ist aus ihnen auch | |
nicht viel mehr herauszuholen. Das stört den Spindoktor dann doch | |
gelegentlich. "Streitet euch", rief er den Abgeordneten und | |
Parteifunktionären zu. Lebendig soll die Debatte sein und unterhaltsam, | |
forderte er. In den 1980er Jahren studierte Surkow am Kulturinstitut in | |
Moskau die Fächer Regie und Organisation von Massenveranstaltungen im | |
Kulturbereich. | |
Er beendete das Studium aber nicht und übernahm stattdessen die Leitung | |
einer Amateurbühne. Trotz ausgeklügelter Regieanweisungen rührten sich die | |
Marionetten nicht, sie blieben einfach stumm. Kein Wunder. Denn eine eigene | |
Meinung gesteht ihnen der Bühnenexperte nicht zu. Die Anweisungen zum | |
Abstimmen in der Duma erhalten sie per SMS. | |
## Garanten der Stabilität | |
Die Identität zwischen "Herrschenden und Beherrschten" kündigte die | |
Gesellschaft bei den jüngsten Wahlen auf. Sie will kein Statist mehr sein | |
in der Surkow-Show, die aus dem Ruder läuft. Der Präsidialadministrant | |
stellte riesige Heere zum Schutze der Inszenierung auf. Naschi, Molodaja | |
Gwardija, Mestnije heißen die kremltreuen Jugendgruppen, die Surkow als | |
Garanten der Stabilität und Schutztruppen gegen den Bazillus der farbigen | |
Revolutionen in postsowjetischen Ländern auf die Bühne schickte. | |
Jede Gruppe hat ein eigenes Profil, einen eigenen Auftrag. Die einen sind | |
gewaltbereite Provokateure, die anderen biedere Patrioten, die Rentnern bei | |
Einkäufen helfen, für Volksgesundheit werben und sich gegen die Korruption | |
auflehnen. Je nachdem, was gerade gefragt ist. | |
Inzwischen beschleunigen die verführten und verführenden | |
Vaterlandsverteidiger indes den Untergang des Systems. Surkow ist kein | |
Ideologe, er glaubt auch nicht an seine Theorien. Ende 1990er war er im | |
Kreml unter Jelzin ein Demokrat, vorher pflegte er für den inhaftierten | |
ehemaligen Ölmilliardär Michail Chodorkowski den Kontakt zum Staatsapparat. | |
Im Klartext: ein Schmiergeldbote. Dem der Arbeitgeber außerordentlichen | |
Intellekt bescheinigte, jedoch nicht über den Weg traute. | |
Surkow hat Russland zu seiner Bühne gemacht, auf der sich alles um Macht | |
der Macht halber dreht und dieser Zugriff die Anhäufung immensen Reichtums | |
garantiert. Die Posen und Masken sind beliebig, raffiniert zwar und bunt, | |
jedoch von bedrückender Leere. Im Gegensatz zu den Mitwirkenden der Elite | |
ist sich der Regisseur dessen bewusst. Unter dem Pseudonym Dubitzky | |
veröffentlichte Surkow den Roman "Nahe Null", Untertitel "Gangster | |
Fiction". | |
Ein Pandämonium von Gewalt und moralischen Abgründen. Eine | |
Zustandsbeschreibung des verwesenden Kadavers Russland. "Man kann Macht | |
erringen, ohne jemanden auszulöschen. Man muss nur aufhören. Man muss neu | |
anfangen. Jetzt sofort", beschwört der Held am Ende sich selbst. Er ist | |
eine der widersprüchlichen russischen Charakterfiguren, die Böses auf dem | |
Kerbholz haben, darunter aber auch fürchterlich leiden - wie der Autor. | |
Surkow macht nicht nur im Roman Anleihen bei den französischen | |
Postmodernisten. Es ist auch der Stil seiner Politik. Er zerstört die | |
großen kulturellen Narrative. Wahrheit und Wahrhaftigkeit existieren für | |
den Spielleiter ohnehin nicht. Wahr ist, was er auf die Bühne stellt. | |
Wieder hat Russland ein modisches westliches Konzept aufgegriffen und es in | |
ein Instrument der Unterdrückung verwandelt - wie schon einmal den | |
Sozialismus. | |
29 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
## TAGS | |
Wladimir Putin | |
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