| # taz.de -- Ukraine 20 Jahre nach Ende der Sowjetunion: Vorwärts in die Vergan… | |
| > Die postsowjetische Ukraine - es hat sich kaum etwas geändert: Die | |
| > Militärs verkaufen Panzer und die Geheimdienste Geheimnisse. Was hat die | |
| > Orangene Revolution gebracht? | |
| Bild: Neue alte Eliten? Lenin-Statue in Ukraine. | |
| Die Szene spielt im Sommer 2011 in einem Restaurant für Neureiche im | |
| ostukrainischen Lugansk, der Stadt der Kohlengruben und Lenin-Denkmäler. | |
| Auf dem Überwachungsvideo ist klar zu sehen: ein junger Mann, offenbar | |
| besoffen, greift eine junge Frau an, die ebenfalls nicht gerade nüchtern | |
| ist. Er zerrt sie vom Tisch weg, schlägt ihr ins Gesicht und packt sie an | |
| den Haaren. Die Besucher schauen zu. Rauchen. Trinken ihren Wodka weiter. | |
| Das Leben geht weiter. | |
| Man könnte diese Szene als eine Episode aus dem Leben der neuen "Elite" | |
| abtun, wenn sie nicht so typisch für die postsowjetische ukrainische | |
| Gesellschaft wäre. Die sogenannten Majors, die Jeunesse dorée, treiben die | |
| Exzesse ihrer reichen Väter und Mütter auf den Höhepunkt und kommen | |
| ungestraft davon. Die von ihnen verursachten Verkehrsunfälle, Schlägereien | |
| und Schießereien enden meist mit einem Freispruch vor Gericht. Wenn es | |
| überhaupt zu einer Verhandlung kommt. | |
| In seinem Roman "Moscoviada", der Anfang der 90er Jahre kurz nach dem | |
| Zerfall der Sowjetunion entstanden ist, präsentiert der ukrainische | |
| Schriftsteller Juri Andruchowytsch seine ironisch-romantische Version des | |
| Zerfalls der UdSSR. "Das Imperium hat seine Säufer verraten. Und damit sich | |
| selbst dem Untergang geweiht." Laut Andruchowytsch hätte die Kommunistische | |
| Partei nicht gegen Liberalismen, Nationalismen und Religiosität kämpfen | |
| oder Menschenrechtler jagen sollen. Sie hätte sich besser um ihre Säufern | |
| kümmern sollen. | |
| Es ist mehr als eine Anspielung auf die Antialkoholkampagne der 80er Jahre, | |
| die zu einem Fiasko geriet. Allerdings aus einem anderen Grund. Dem maroden | |
| sozialistischen Finanz- und Wirtschaftssystem fehlten die Einnahmen aus dem | |
| Spirituosenhandel und so wurden die Einschränkungen bald gelockert. | |
| Doch das konnte die verfahrene Lage nicht mehr retten. Die Sowjetunion | |
| verlor nicht den Kalten Krieg. Ihr ging das Geld aus. Der scheinbar | |
| mächtigste und unbesiegbare kommunistische Staat, der zunächst vor allem | |
| auf Gewalt und Menschenverachtung und später nur noch auf Lügen baute, | |
| brach in wenigen Monaten wie ein Kartenhaus zusammen. | |
| ## Kein Elitenwechsel | |
| Was danach folgte, war in vielen Nachfolgestaaten ein wilder | |
| gesellschaftlicher Ritt, der in der wissenschaftlichen Literatur meist als | |
| Transformationsprozess bezeichnet wird. Die merkwürdige Symbiose zwischen | |
| der kommunistischen Mentalität und dem Wildwest-Kapitalismus wurde zu einer | |
| explosiven Mischung, die mancherorts zu monströsen Auswüchsen führte, zu | |
| einer sagenhaften Bereicherung eines kleinen Teil der Gesellschaft und | |
| einer Verarmung der meisten Einwohner, zur Entstehung von Parallelwelten. | |
| Das passierte überall dort, wo sich kein Elitenwechsel vollzog. | |
| Mit dem Zerfall der Sowjetunion begann in der Ukraine zunächst die goldene | |
| Zeit des großen Handels. Jeder bot etwas zum Verkauf an. Die Kommunisten | |
| verkauften das Parteieigentum, die Militärs verkauften Panzer und Raketen, | |
| die Geheimdienste verkauften Geheimnisse, der Staat schickte sich an, | |
| "volkseigene" Fabriken und Betriebe an die "richtigen" Eigentümer zu | |
| verkaufen, und das gemeine Volk verkaufte im Kampf um die Existenz den | |
| Rest-Wodka und Zigaretten auf den polnischen Basaren. | |
| Zwanzig Jahre später hat sich eigentlich nicht viel geändert. Die Militärs | |
| verkaufen Panzer und Raketen, die Geheimdienste Geheimnisse und der Staat | |
| verkauft die Reste des Staatseigentums an die "richtigen" Eigentümer | |
| (meistens über die "richtigen" Mittelsmänner). Die Bevölkerung kämpft ums | |
| Überleben und verkauft alles Mögliche, oft ihre Arbeitskraft in Westeuropa, | |
| wobei es viel schwieriger geworden ist, über die EU-Grenze nach Polen zu | |
| gelangen. | |
| Nur die Kommunisten haben nichts mehr zu verkaufen: Sie haben das | |
| Parteieigentum längst verhökert und siechen deswegen an der Sperrklausel | |
| dahin. Diese haben sie allerdings bisher immer überwunden und sich so ein | |
| bequemes, aber trostloses Leben in der Legislative gesichert. | |
| In seinem Buch "Die reale und die imaginierte Ukraine" unterteilt der | |
| ukrainische Publizist Mykola Rjabtschuk die Nachfolgestaaten der | |
| Sowjetunion in drei Gruppen. In den baltischen Ländern waren die | |
| Bürgergesellschaften stark genug, um nach dem Zerfall der Sowjetunion die | |
| Kontrolle über den Staatsapparat zu übernehmen und den autoritären Staat in | |
| einen liberal-demokratischen zu verwandeln. Als dort einige Jahre später | |
| die Postkommunisten wieder an die Macht kamen, war die gesellschaftliche | |
| Umgestaltung schon weit genug vorangeschritten. Der Weg zurück in die | |
| Vergangenheit war nicht mehr möglich. | |
| In anderen postsowjetischen Republiken kam es dagegen nie zu einem echten | |
| Machtwechsel. Die zentralasiatischen Staaten kannten in ihrer Geschichte | |
| kaum zivilgesellschaftliche Traditionen. So etablierten sich dort nach dem | |
| Zerfall der Sowjetunion recht schnell orientalische Despotien. Ansätze von | |
| Bürgergesellschaften wurden im Keim erstickt. In den europäischen | |
| Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wie Russland oder Ukraine war | |
| weder die Gesellschaft stark genug, um den autoritären Staat zu beherrschen | |
| und ihn in eine liberale Demokratie zu transformieren, noch der Staat, um | |
| die noch schwache Bürgergesellschaft vollständig zu unterwerfen. Diese | |
| Situation führte laut Rjabtschuk zum Entstehen eines gewissen Pluralismus. | |
| Die kommunistischen Eliten waren nicht mehr imstande, die Lage alleine zu | |
| kontrollieren, und mussten Kompromisse schließen. | |
| In der Ukraine konnte sich die alte Parteinomenklatura mit den | |
| Nationaldemokraten einigen, und Letztere beteiligten sich zunächst sogar an | |
| der Regierung. Dabei waren die Rollen klar verteilt: Die Postkommunisten, | |
| die sich von der kommunistischen Ideologie längst losgesagt hatten, | |
| kümmerten sich um die Wirtschaft und Geschäfte, die Nationaldemokraten um | |
| Sprache und Kultur. Mit einem vorhersehbaren Resultat: Einige Jahre später | |
| übernahm die alte Nomenklatura komplett das Ruder. | |
| In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde sie nach und nach verdrängt und | |
| musste den Platz unter der Sonne räumen. Die Nachfolger kamen meist aus der | |
| jungen Generation, es waren die alternden Komsomolzen der späten | |
| Sowjetzeit, die immer aktiver im Wirtschafts- und Finanzsektor Geschäfte | |
| machten. Dabei nutzten sie ihre engsten Beziehungen zur Politik, die ihnen | |
| die bevorzugte Behandlung garantierte. Es begann der Aufstieg der | |
| Oligarchen. | |
| ## Der Erpresserstaat | |
| Hier gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen dem postsowjetischen Russland | |
| und der Ukraine. Doch es gibt auch Unterschiede. Die ersten russischen | |
| Oligarchen kamen zu ihrem Reichtum, indem sie etwas verkauften, was | |
| ursprünglich dem Staat bzw. dem "Volk", also auch ihnen, den Oligarchen | |
| selbst, gehört hatte - russisches Erdöl und Erdgas. Die ersten ukrainischen | |
| Oligarchen vollbrachten ein noch größeres Kunststück. Sie wurden reich, | |
| indem sie etwas verkauften, was ihnen nicht gehört hatte - ebenfalls | |
| russisches Erdöl und Erdgas. Durch diesen oft dubiosen Zwischenhandel und | |
| intransparente Tauschgeschäfte wurde das Startkapital für spätere | |
| Privatisierungen und Beteiligungen angehäuft. Vergabe von Lizenzen und | |
| Steuererleichterungen, Zuteilung von Quoten, manipulierte Ausschreibungen | |
| und ausufernde Korruption führten bald dazu, dass es einigen mächtigen | |
| Clans gelang, sich fast die gesamte Wirtschaft des Landes unter den Nagel | |
| zu reißen. | |
| Der Staat gab vor, gegen Korruption zu kämpfen - tatsächlich aber förderte | |
| er sie. Doch die Behörden guckten nicht tatenlos zu, sondern sammelten | |
| fleißig Informationen. Dieses kompromittierende Material gegen eigene | |
| Beamte und Unternehmer diente dem Zweck, Loyalitäten zu erzwingen. Nach | |
| Rjabtschuk war das die Geburt des "Erpresserstaates". | |
| Seitdem haben sich die Erpressungs- und Überwachungsmöglichkeiten des | |
| Staates weiter entwickelt. Und die ukrainische Gesellschaft reagierte zu | |
| oft so wie die Besucher in dem Lugansker Lokal: mit Wegschauen. | |
| Man ging zur Wahl, wählte eine Partei, die am meisten versprochen hatte. | |
| Man war bereit, Wahlfälschungen hinzunehmen, hoffte im Kampf um die | |
| Existenz auf Hilfe des Staates, auf den guten Präsidenten (die Sowjetunion | |
| lässt grüßen!) oder auf ein Wunder, man schottete sich ab. | |
| Von Solidarität keine Spur. Solidarität war ein ideologisch belasteter | |
| Begriff aus der Sowjetzeit und schon deswegen verpönt. Die verbissenen | |
| Einzelkämpfer konnten die Gesamtlage nicht ändern. | |
| Auch die Orangene Revolution - Massenproteste gegen massive Wahlfälschungen | |
| bei den Präsidentschaftswahlen von 2004 - brachte keine wirkliche Wende und | |
| keinen Elitenwechsel mit sich. Dieses Ereignis, das so viele Sympathien und | |
| Hoffnungen geweckt hatte und kurze Zeit an eine breite gesellschaftliche | |
| Solidarität glauben ließ, wurde zu einem Beispiel für ungenutzte Chancen. | |
| Die Ukrainer haben es nicht geschafft, Politik und Politiker unter | |
| gesellschaftliche Kontrolle zu bringen. So überraschte es auch nicht, dass | |
| der Machtwechsel nach den Präsidentenwahlen von 2010 zur Stärkung von | |
| autoritären Tendenzen geführt hat, gepaart mit einer noch ausschweifenderen | |
| Selbstbedienungsmentalität der Eliten. | |
| Der junge Mann aus dem Lugansker Restaurant, Sohn eines Abgeordneten der | |
| Regierungspartei, sitzt nun in U-Haft. Ein Gerichtsprozess läuft, das Opfer | |
| ist mittlerweile zu einem Vergleich bereit. Da das Video in der | |
| Gesellschaft doch zu hohe Wellen geschlagen hat, wird man aber vielleicht | |
| versuchen, ein Exempel zu statuieren. Ob und wann dies passiert, bleibt | |
| unklar. Viel größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dem maroden Staat das | |
| Geld ausgeht. Und sich damit eine weitere Chance für einen Neuanfang | |
| bietet. | |
| 23 Dec 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Juri Durkot | |
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