# taz.de -- 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion: Die Trauer um die Supermacht | |
> Die Nostalgie nach vergangener Größe ist verbreitet. Dabei hat Russland | |
> enorme Potenziale. Doch die Wirtschaftskraft beruht auf Ausbeutung der | |
> natürlichen Reichtümer. | |
Bild: Das Russland, das nach der Unabhängigkeit der Sowjetrepubliken übrig bl… | |
Es ist heute leicht, Russland zu unterschätzen. Noch verfügt es über hohe | |
militärische und geostrategische Druckmittel; noch ist es reich an | |
Energiequellen und Bodenschätzen, die ringsum dringend benötigt werden. | |
Damit besitzt Russland nicht nur Einfluss, sondern auch | |
Entwicklungschancen. Im Sicherheitsrat der UN hat es ein Vetorecht, und | |
international kann es sich immer wieder mit dem aufstrebenden China gegen | |
die USA und die anderen westlichen Staaten verbünden. Aber Russland gehört | |
auch zu den besonders korrupten und schlecht organisierten Großstaaten, | |
dessen Machtgesten mit seiner inneren Handlungsfähigkeit auffällig | |
kontrastieren. | |
Man sollte sich gleichwohl mit verächtlichen Schlussfolgerungen | |
zurückhalten. Die westlichen Regierungen sind ihren eigenen | |
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen ebenfalls eher hilflos | |
ausgeliefert; und Korruption kennen sie auch. | |
Das internationale ökonomische Gewicht Russlands lässt sich anhand seiner | |
Einbettung in die internationale Wirtschaftssteuerung schätzen. 1975 | |
gründeten die damals global wirklich starken Wirtschaftsländer USA, Japan, | |
Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien die "G 6", um | |
anstehende weltwirtschaftliche Problemlösungen vorzubesprechen; ein Jahr | |
später schloss sich Kanada an. | |
## G8, G20, WTO - Russland ist nicht ebenbürtig | |
Seit 1997 ist auch Russland Mitglied der nunmehrigen "G 8"; aber so richtig | |
ebenbürtig ist es nicht. Für die globalen Gewichtsverschiebungen gibt es | |
seit 1999 auch eine "G 20", in der auch Russland Mitglied ist. Aber für sie | |
gilt die allgemeine Faustregel: Je größer ein Gremium, desto weniger | |
vernünftige Beschlüsse sind zu erwarten, desto geringer das politische | |
Eigengewicht. | |
2011 wurde Russland sogar in die Welthandelsorganisation WTO aufgenommen. | |
Das ist sehr spät für so ein großes Land. | |
Russlands internationale Position war also schon beeindruckender. | |
Europäische Großmacht war es spätestens seit dem 18. Jahrhundert. Es dehnte | |
sich nach Westen auf Kosten der ehemaligen imperialen Mächte Schweden und | |
Polen aus und nahm den Osmanen, den Krimtataren und den nomadisierenden | |
Steppenvölkern jene Gebiete weg, die heute zur südlichen Ukraine und zum | |
südlichen Russland gehören. | |
## Potenzielle Kolonialgebiete | |
Im 19. Jahrhundert eroberte Russland Transkaukasien, also die Gebiete des | |
heutigen Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Im gleichen Jahrhundert | |
eroberte es auch die weiten Gebiete Mittelasiens zwischen dem heutigen | |
Turkmenistan und Kirgistan. Und es dehnte sich erobernd und besiedelnd über | |
Sibirien bis zum Pazifik hin aus. | |
Nach dem Sieg über Napoleon von 1812 war nur noch Großbritannien ein | |
ebenbürtiger Rivale. Im verlustreichen Krimkrieg zwischen 1853 und 1856 | |
behauptete sich Russland nicht nur gegen das Osmanische Reich, sondern auch | |
gegen dessen Verbündete Großbritannien und Frankreich. Aus deren | |
Perspektive schien das Land vor allem potenzielles Kolonialgebiet zu sein. | |
Das blieb lange die vorherrschende Perspektive. | |
Noch das Deutschland Hitlers führte seinen Krieg gegen Osteuropa und | |
Russland mit kolonialen Fantasien, Zielen und Methoden. Dabei war Russland | |
zwar vergleichsweise rückständig, in seiner dynamischen Entwicklung aber | |
bis 1917 durchaus mit den USA vergleichbar. | |
## Chaos, Auflösung und Zerfall | |
Das erste Desaster erlebte das Land 1917 mit seiner Niederlage gegen ein | |
Deutsches Reich, das kurz davor stand, in seinem Westen den gleichen Krieg | |
zu verlieren. Die russische Februarrevolution brachte Chaos und Auflösung, | |
der Oktoberputsch dann Bürgerkrieg und den Zerfall des Landes. Territorial | |
konsolidierten die siegreichen Bolschewiki das Land wieder. | |
Verstärkt wurde die internationale Position der Sowjetunion zu Beginn durch | |
die fast religiöse Verehrung, die sie vielfach auch im Westen und in den | |
Entwicklungsländern genoss. Die kommunistische Bewegung war dort nicht nur | |
ein Reservoir intelligenter Spione, sie schuf gerade unter den | |
Intellektuellen ein Reservoir an Sympathien, auf die die Sowjetunion sich | |
lange verlassen konnte. | |
Diesen Vorteil verspielte das Land nicht auf einmal, sondern schrittweise - | |
mit den Repressionen seit Ende der zwanziger Jahre, mit den Schauprozessen | |
und dem Massenterror der dreißiger Jahre, dem Hitler-Stalin-Pakt, mit der | |
Niederschlagung der Aufstände von 1956 in Ungarn und Polen, mit dem | |
Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. Der sowjetische Glanz, der viele | |
geblendet hatte, war schon vor 1991 verblichen. | |
## Postsowjetische Wirren | |
Das Russland, das nach der Unabhängigkeit der Sowjetrepubliken übrig blieb, | |
war keine Supermacht mehr. Aber ebenso wenig, wie die USA nun allmächtig | |
waren, war Russland gänzlich ohnmächtig. Es erlebte den Aufstieg und | |
Zerfall demokratischer Hoffnungen, eine Blüte kultureller Kreativität, | |
ökonomische Krisen, den Niedergang seiner wissenschaftlich-technischen | |
Potenziale und schließlich die Ablösung einer Führungsschicht räuberischer | |
Oligarchen durch eine Schicht nicht weniger räuberischer Geheimdienstler. | |
Die Wirtschaftskraft Russlands beruht heute überwiegend auf der ersatzlosen | |
Ausbeutung seiner natürlichen Reichtümer - vor allem Erdöl, Erdgas und | |
Holz. Die eigentlich produktive Wirtschaft, die die Fortentwicklung von | |
wissenschaftlich fundierter Technik und eine hinreichend rationale | |
Produktionsorganisation voraussetzt, ist in Russland schwach. Aber beim | |
Zocken auf den internationalen Finanzmärkten lassen sich die dort tätigen | |
Russen von keinem westlichen Kollegen übertreffen. | |
Dass es in Russland heute eine Nostalgie nach der großen sowjetischen Zeit | |
Stalins gibt, ist angesichts des Niedergangs teilweise verstehbar. Das | |
Leben war in sowjetischer Zeit zwar zumeist armselig und ungewiss, aber als | |
Russe, als Angehöriger einer slawischen Brudernation, ja selbst als | |
sonstiger Sowjetbürger konnte sich der Einzelne etwas vom Ruhm der | |
Supermacht selbst zurechnen. | |
## Zarenreich und Sowjetland werden nostalgisiert und betrauert | |
Gerade die Nostalgie aber verweist auf den endgültigen Verlust. Wie fast | |
alle Nostalgien ist auch die russisch-sowjetische widersprüchlich: Das | |
Zarenreich und das Sowjetland können in den betrauerten Traumbildern | |
koexistieren. | |
Wie stark der Verlust ist, macht aber ein Vergleich mit den ehemaligen | |
Konkurrenten Großbritannien und USA deutlich. Der koloniale europäische | |
Blick ist anders als gegenüber Afrika oder Asien weitgehend ungebrochen. | |
Daher hinterlässt das Imperium in seinem ehemaligen westlichen | |
Herrschaftsgebiet kaum Spuren. | |
Im sowjetischen Osten sind die russischen Spuren noch präsent. Aber sie | |
lassen sich nicht mit jenen vergleichen, die England in seinen ehemaligen | |
Kolonialgebieten hinterlassen hat. | |
Russland kann dagegen einige geostrategische Pressionen einsetzen, | |
Pipelines als Machtinstrumente verwenden oder internationale Entwicklungen | |
beeinflussen. Ob es die Potenziale, über die es noch verfügt, wird | |
revitalisieren können, hängt von den inneren Entwicklungen des Landes ab. | |
Die aber stimmen nicht optimistisch. | |
23 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Erhard Stölting | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest 2019 | |
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