# taz.de -- Eurovision und Menschenrechte: „In einer reinen Diktatur? Nein“ | |
> Darf der nächste Eurovision Song Contest in Aserbaidschan ausgetragen | |
> werden? Thomas Schreiber, bei der ARD für das Festival verantwortlich, | |
> sagt Ja. | |
Bild: Eine Nelke – nicht für Popsternchen, sondern für die Demokratie. Baku… | |
taz: Herr Schreiber, in Aserbaidschan ist die Menschenrechtssituation | |
zumindest fragwürdig – kann die ARD es verantworten, nach Baku zum | |
Eurovision Song Contest zu gehen? | |
Thomas Schreiber: Ja. Schon die Tatsache, dass der Contest in Aserbaidschan | |
stattfinden wird, hat ja in den vergangenen Wochen einen publizistischen | |
Niederschlag auch bei anderen Themen gefunden. Ohne den Eurovision Song | |
Contest – seien wir mal ehrlich – hätte es diese Form der Aufmerksamkeit | |
für dieses Land nicht gegeben. | |
Für die aserbaidschanische Regierung überwiegt zugleich die positive | |
Berichterstattung. | |
Das bleibt abzuwarten. Sicherlich ein hohes Maßes an Aufmerksamkeit für das | |
Land, man will sich dort als weltoffen und modern darstellen und zeigen, | |
was man in 20 Jahren Unabhängigkeit erreicht hat. | |
So ist es dort aber nicht. | |
Die circa 1.550 Journalisten, die rund um den ESC nach Aserbaidschan kommen | |
werden, werden eben nicht nur über die bunte Show berichten, sondern auch | |
Geschichten von den Menschen im Land erzählen, und das bedeutet natürlich | |
auch Aufmerksamkeit für die Opposition und für die Menschenrechtsgruppen. | |
Die European Broadcasting Union, die für den ESC verantwortlich ist, hat in | |
einem Statement auf das Jahr 1969 verwiesen, als der Contest im | |
franquistischen Spanien stattfand. Sehen Sie da auch Parallelen? | |
So etwas zu sagen finde ich unverantwortlich. Spanien war ein Land, in dem | |
zum Beispiel die Todesstrafe auf grausamste Weise durch die Garotte – und | |
das noch bis 1974 – ausgeübt wurde. | |
Und das heißt? | |
Wir sollten aufpassen, dass wir fair sind, dem Song Contest gegenüber und | |
Aserbaidschan. Ich will mich nun nicht auf dünnes Eis begeben und sozusagen | |
das Thermometer für die Celsiusgrade an Menschenrechtsverletzungen | |
ansprechen, aber ich habe schon den Eindruck, dass an den ESC gelegentlich | |
andere Maßstäbe angelegt werden als an Olympische Spiele … | |
… Sie meinen die im Sommer in London? | |
Nein, die vor knapp vier Jahren in Peking. In China werden nach Schätzungen | |
von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty jedes Jahr bis zu 4.000 | |
Menschen hingerichtet, und dennoch haben alle Nationen der Welt an den | |
Olympischen Spielen damals teilgenommen. Neben der Sportberichterstattung | |
gab es mächtig viel Aufmerksamkeit für politische und gesellschaftliche | |
Missstände dort. | |
Im Sommer findet die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine | |
statt … | |
… in der Ukraine, ebenfalls Mitglied des Europarats, wird momentan eine | |
ehemalige Ministerpräsidentin zu Tode inhaftiert – Briefe des | |
Menschrechtsbeauftragten der Bundesregierung an die deutsche | |
Fußballnationalmannschaft habe ich noch nicht gelesen. | |
Sie meinten neulich, nach Minsk würde die ARD zum Contest nicht reisen … | |
Ich habe gefragt: Wenn Weißrussland gewinnen würde, möchte ich dann dabei | |
sein? In einer lupenreinen Diktatur? Nein. | |
Jetzt mal doch verglichen: Warum ginge Weißrussland nicht – und geht | |
Aserbaidschan doch? | |
Die Frage müsste lauten: Wer darf, nach welchen Kriterien, eigentlich | |
mitmachen? Wenn ein Land gewonnen hat, hat es auch das Recht, die | |
Veranstaltung auszurichten und Gastgeber zu sein. Man muss das Problem | |
vorher lösen – in der Frage der Teilnahme überhaupt. Ich sehe dieses Jahr, | |
nach allem, was ich gehört habe, nicht die unmittelbare Gefahr, dass der | |
Eurovision Song Contest 2013 in Minsk veranstaltet wird. | |
Dennoch: Gibt es nachvollziehbare Unterschiede der Regime von Lukaschenka | |
in Minsk und dem in Aserbaidschan? | |
Ja, die sehe ich. Aserbaidschan war 70 Jahre lang formal eine | |
Sowjetrepublik, de facto aber eine Art sowjetischer Kolonie. Es ist seit 20 | |
Jahren unabhängig und liegt geografisch an einer der schwierigsten Stellen | |
der Welt. An der Nordgrenze die unruhigen Kaukasusrepubliken mit dem | |
ehemaligen Kolonialherrn Russland, an der Südgrenze Iran, das in | |
Aserbaidschan einen Mordanschlag auf den israelischen Botschafter | |
organisiert hat, auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres Kasachstan und | |
Turkmenistan, und das sind auch keine lupenreinen Demokratien. In welche | |
Himmelsrichtung soll dieses Land blicken? | |
Bitte! | |
Nur nach Westen. Baku ist eine Stadt, die einen europäischen Kern hat. | |
Kulturell, auch wenn es jenseits des Kaukasus liegt und der Kaukasus die | |
Kontinentalgrenze zwischen Europa und Asien beschreibt, zählte Baku einst, | |
bis zum Ersten Weltkrieg, auch ein Stück weit zu Europa. Dorthin will es | |
wieder gehören. Wenn jetzt der Fokus des Eurovision Song Contest nach Baku | |
kommt, dann wäre es doch naiv, anzunehmen, dass die dortige Regierung nicht | |
weiß, was das bedeutet. Sie werden sich reformieren müssen – im | |
demokratischen Sinne. Baku will sich um die Olympischen Spiele 2020 | |
bewerben, und der Contest soll dem Image helfen, nicht ihm schaden. Wir | |
können dabei helfen. | |
Haben Sie bei Ihren Partnern beim Sender Ictimai in Baku die Erfahrung | |
gemacht, dass dort diese Ihre Überlegungen auch angestellt werden? | |
In Aserbaidschan gibt es unterschiedliche Menschen, das Bild ist nicht | |
schwarz-weiß. Es gibt verantwortliche Politiker, die haben ihre | |
Sozialisation in der Sowjetzeit erlebt und denken in entsprechenden | |
Strukturen. Und es gibt andere Politiker, die ganz anders geprägt wurden. | |
Der Übergang aus der Kultur einer ehemaligen Sowjetrepublik in eine | |
moderne, demokratische Zivilgesellschaft ohne Korruption geht nicht in | |
einem Wimpernschlag, wie bei der „Bezaubernden Jeannie“. Das dauert im | |
Zweifel mindestens eine Generation. | |
So ähnlich argumentierte der kasachische Präsident Nasarbajew neulich in | |
Deutschland: Der Westen möge sich nicht so aufblasen, Demokratie wird nicht | |
an einem Tag aufgebaut. Teilen Sie seinen Blick? | |
Nein, weil dieses Argument missbraucht werden kann, um demokratische | |
Entwicklungen zu behindern. Richtig aber ist die Frage: Wie und in welchen | |
Zeiträumen entwickelt sich eine Gesellschaft – zumal eine, die eine | |
Sowjetrepublik war. Ich möchte es mal mit einem etwas überspitzten Beispiel | |
sagen. Stellen wir uns mal vor, da kommt ein Journalist aus dem Ausland | |
nach Deutschland und betrachtet Deutschland ausschließlich durch die Brille | |
der NSU-Morde. Es wäre die Wahrheit – aber nur in einem winzigen | |
Ausschnitt. | |
Und das heißt, die aserbaidschanische Wirklichkeit wäre nicht eine von | |
Menschenrechtsverletzungen? | |
Die Lebenswirklichkeit der Menschen in Aserbaidschan ist deutlich komplexer | |
als der singuläre Ausschnitt, der jetzt betrachtet wird. Ja, Festnahmen von | |
Journalisten oder Bloggern sind nicht hinzunehmen. Ja, Pressefreiheit und | |
Meinungsfreiheit muss es geben, genau wie demokratische Wahlen. Und | |
natürlich verdient ein Parlament ohne Opposition diesen Namen nicht. | |
Gleichzeitig muss man sich aber auch klarmachen: Wie oft ist in Deutschland | |
in der Vergangenheit über Aserbaidschan berichtet worden? Nicht so oft. | |
Dass der Song Contest unpolitisch sei, ja sich aus Politischem | |
herauszuhalten habe, ist nicht mehr haltbar? | |
Der Eurovision Song Contest ist eine Musikliveshow mit 120 Millionen | |
Zuschauern in mehr als 50 Ländern. Aber die politischen Umstände um die | |
Veranstaltung herum können nicht mehr außer Acht gelassen werden, und | |
darüber werden wir auch berichten. Auch in anderen Ländern. | |
Jan Feddersen ist taz-Redakteur, verfolgt den Grand Prix seit seiner | |
Kindheit und hat mehrere Bücher darüber geschrieben. Er [1][bloggt] und | |
arbeitet auch frei für den ESC-Sender NDR | |
1 Mar 2012 | |
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Jan Feddersen | |
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