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# taz.de -- UDSSR-Serie auf Arte: Kommunismus als Unterhaltungsfrage
> Arte verabschiedet den Sozialismus: Die sechsteilige Serie "Lebt wohl,
> Genossen!" verschlang ein Millionenbudget – und hinterlässt den Zuschauer
> leider nicht viel klüger.
Bild: Dass Gagarin der Erste im Weltraum war, wusste man auch schon vor . "Lebt…
KGB-Funktionäre, die zu den Amerikanern übergelaufen sind, sollen einmal
behauptet haben, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei ein "Projekt" des
Zentralkomitees zur Privatisierung des Staatseigentums durch die
Nomenklatura gewesen. 21 Jahre nach seinem Zusammenbruch verabschiedet Arte
das sowjetische Imperium: mit einer sechsteiligen TV-Serie – der erste Teil
wird Dienstagabend ausgestrahlt –, einem eigenständigen Webauftritt, mit
Diskussionsveranstaltungen und einem Buch zum Thema.
Wer sich nicht nur von den komprimiert dargestellten kommunistischen
Gräueltaten unterhalten lassen will, für den steht nach Sichtung von "Lebt
wohl, Genossen!" fest: zu früh gefreut, Arte! Denn jetzt geht es erst
richtig los mit dem Kommunismus. Mit den Worten von Heiner Müller: "Erst
mit der Vereinigung ist wieder Klassenkampf in Deutschland möglich!"
Dabei ist die TV-Serie fein aufgebaut: Nach dem Vorbild des berühmten
siebeneinhalbstündigen Arte-Porträts "Abécédaire", in dem der Philosoph
Gilles Deleuze von seiner Studentin Claire Parnet leicht spöttisch
interviewt wird, hat der russische Regisseur Andrei Nekrassow sich von
seiner Tochter über die "Breschnew-Zeit" ab 1975 befragen lassen. Das legt
einen roten Faden durch die Doku-Folgen. Für "Lebt wohl, Genossen!" wurden
aus allen Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts im Auftrag des Senders
"Information und Unterhaltung" zusammengesammelt.
An manches erinnert man sich gern, etwa an den Auftritt des sowjetischen
Sängers Wladimir Wisotzki und an den der Prager Undergroundband Plastic
People of the Universe, mit deren Repression durch den Staat die "Charta
77" entstand - was dann einer der Sargnägel des Staatssozialismus wurde.
Allzu ausführlich kommen allerdings die Pappnasen aus der Politik zu Wort
und, da sie inzwischen alle tot sind, auch ihre Dolmetscher und
Redenschreiber: Ceausescu liebte Kutschen und Pferde, der Nichttheoretiker
Breschnew Erdbeermarmelade.
## Ortloser Virus
1975 wurde die Schlussakte der von der Sowjetunion einberufenen
Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
unterzeichnet, in der es nebenbei auch um die Menschenrechte ging. Diese
insbesondere, die vom Pariser Philosophen Deleuze als völlig idiotisch
abgetan wurden, benutzten in der Folgezeit die Dissidenten im Ostblock als
Bumerang gegen das kommunistische Regime - bis Gorbatschow dieses 1991 im
Fernsehen für "aufgelöst" erklärte.
Heute würde er so etwas auf Facebook posten. Dort findet nun immerhin das
üppige Projekt seine Fortsetzung - ohne dabei jedoch bedacht zu haben, was
bereits dem DDR-Dramatiker Heiner Müller 1992 schwante: "Der Kommunismus
ist jetzt ortlos. Er hat keinen Ort mehr, ist nicht mehr lokalisierbar, er
ist ein Virus, wir wissen alle, wie gefährlich Viren sind. Man wird die
Fragen nicht mehr los, die der Kommunismus gestellt hat."
Dieser Virus wurde von der Pariser Gruppe Tiqqun wie folgt definiert:
"Kommunismus nenne ich die reale Bewegung, die überall und jederzeit den
Bürgerkrieg zu zunehmend elaborierter Beschaffenheit vorantreibt. Ich
spreche vom Bürgerkrieg, um ihn in Richtung seiner erhabensten
Erscheinungsweisen auf mich zu nehmen. Das heißt: meinem Geschmack
entsprechend."
## Man wird nicht schlauer
Ja, der Kommunismus ist auch eine Unterhaltungsfrage. Die Arte-Autoren
haben das dumpf, antikommunistisch, umgedreht: Sie wollen mit der für sie
als sicher geltenden Abwesenheit des Kommunismus unterhalten. Dümmer wird
man davon zwar nicht, aber auch nicht viel klüger. Dass Gagarin der Erste
im Weltraum war, wussten wir auch schon vorher, aber dass mit ihm endgültig
das Privileg der Verwurzelung und des Exils beseitigt wurde und es seitdem
keine Heimat und auch kein Exil mehr gibt, diesem Problem stellt sich die
Arte-Serie nicht.
Obwohl oder weil der Regisseur Andrei Nekrassow ein in Deutschland lebender
Russe ist, der zuletzt den KGB-Mann Alexander Litwinenko interviewte - als
dieser, von seinen eigenen Vorgesetzten vergiftet, im Sterben lag - was
Nekrassow bereits eine "Tragödie von einer ganz großen Dimension" nannte.
Ob die wirkliche Verabschiedung der "Genossen", die sich derzeit in
Russland in Form von Demonstrationen anbahnt, eine noch größere sein wird,
werden wir aber wohl von einem anderen Sender erfahren.
"Lebt wohl, Genossen!", Dienstag, 24.1., 22.40 Uhr, auf Arte
24 Jan 2012
## AUTOREN
Helmut Höge
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