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# taz.de -- Stück am Gorki Theater: Die Leiden multiidentitärer Subjekte
> Es ist nur ein Schritt bis zum Beziehungsknast: Hakan Savaş Mica
> inszeniert Sasha Marianna Salzmanns Stück „Meteoriten“.
Bild: Das Ensemble ohne das fünfte Rad.
In welchem Popvideo der achtziger Jahre hat man dieses Bühnenbild zuletzt
gesehen? Eine Art bewohnbares Baugerüst, dessen dünne Wände, die eh nur
Projektionsflächen sind, kurz vor Schluss von Bühnentechnikern bei
laufender Kamera abgebaut wird? Richtig, es ist „Stop!“ von Sam Brown. Ein
schaurig-schönes One-Hit-Wunder war das. Ein Poplied über Betrug. Gesungen
von einer Frau, die das männliche Objekt ihrer Liebe mit einer anderen über
die Straße gehen sieht.
In „Meteoriten“, dem neuen Stück am Gorki unter der Regie von Hakan Savaş
Mican, geht es um ganz ähnliche Konflikte. Zwar haben wir hier
multiidentitäre Subjekte vor Augen, die zudem noch mit
Migrationsvergangenheiten und transnationalen Beziehungen versehen sind:
ein Männerpaar, ein Frauenpaar, das Letztere bereits mit einem Bruch
versehen, denn aus der einen Frau (Cato, gespielt von Mareike Beykirch, die
gut performt, aber an der Intonation feilen sollte) soll nach eigenem
Beschluss ein Mann werden. Als fünftes Rad am Wagen, das die ganze schön
durchgeplante Ausgangslage durcheinanderbringen wird, gibt es den
vermeintlich heterosexuellen Serösha (wie immer gut: Dimitrij Schaad).
Fehlte da nicht ein Aber? Hier kommt es: Diese postnormativen Beziehungen
haben aber auch nur Probleme wie alle anderen. Irgendwie ist das, aus der
Distanz betrachtet, milde enttäuschend: Man will also die Ehe für alle,
statt die Institution Ehe an sich zu bekämpfen. Man will die Reproduktion.
Man will den Beziehungsknast. Man will eben so normal sein wie die anderen.
Also verhandelt Sasha Marianna Salzmanns Theaterstück „Meteoriten“
Konflikte, die schon in den achtziger Jahren nicht mehr neu waren. Menschen
verlassen Menschen. Menschen kämpfen mit Trauerarbeit. Menschen reißen sich
auf, betrügen einander, Menschen suchen nach Lösungen und finden keine. Na,
warum auch nicht. Manche Dinge ändern sich nie oder wenn, dann nur
unwesentlich und sehr langsam. Und im Hintergrund läuft die
Fußballweltmeisterschaft 2014: damals, als noch alles gut war. Damals, vor
der Krise.
## Die dramatisieren doch alle
Dazu kommt dieses fürs Gorki recht typische Stück wie ein neuzeitiger
Schwank daher. Es gibt viele gute Gags (Thelma Buabeng als Üzüm, durchaus
beachtlich, zu dem gern in sein Handy vertieften Udi (Thomas Wodianka,
gut): „Hier sein ist wohl nicht so dein Ding“), und ein, zwei wirklich gut
ausgearbeitete Szenen – vor allem die Anbahnungsszene zwischen dem Schwulen
Roy (verlässlich gut: Mehmet Ateşçi) und Serösha in der Bar, kurz bevor der
Flieger ins „heimatliche“ Russland geht. Daneben wirken die tragischen
Momente fast schon aufgesetzt. Man erwischt sich dabei, sie „dramatisch“ zu
finden. Wie in: Die dramatisieren doch alle.
Die Figurenzeichnung offenbart dann auch ein paar Schwächen. Weshalb der
straighte Serösha kein Problem mit der wandelnden sexuellen Identität von
Cato hat, aber schier ausflippt, als sie/er eine Nostalgienummer mit der Ex
Üzüm geschoben hat oder auch nicht, bleibt unklar. Soll vielleicht auf
seinen wankelmütigen, jähzornigen Charakter schließen lassen. Unbedingt
logisch ist das nicht.
Cato hingegen wird zum Zentrum: Sie/er ist der/die Einzige, der/die
wirklich gebrochen ist, oder, positiv gewendet: viele ist, nämlich
mindestens zwei: Frau und Mann, werdende Ehefrau und Geliebte. Und
ausgerechnet sie ist es, die am meisten leiden muss. Gar nicht so sehr „an
den Verhältnissen“, die bleiben während des ganzen Stücks tatsächlich eher
außen vor, sondern an den Gefühlen der anderen: der Eifersucht, dem
Besitzanspruch, der Wut.
Dass Sasha Marianna Salzmann sein Stück noch ein wenig mit griechischer
Mythologie und Ovids „Metamorphosen“ aufpimpen muss: geschenkt. Insgesamt
bleibt es bei einer zeitgemäß politisch korrekten Version eines nach Berlin
versetzten Ohnesorg-Theaters. Etwas zahnlos, etwas zu nett in diesem Fall.
Andererseits wird Normalisierung genauso funktionieren: durch Anpassung an
etwas Althergebrachtes. Die Realität ist nämlich meist spießig. Was man
sogar hier in diesem Experimentierraum des diversen Theaters sehen kann.
17 Apr 2016
## AUTOREN
René Hamann
## TAGS
Maxim Gorki Theater
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