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# taz.de -- Kunstfilm „Anhedonia“: Zwei kranke Dandys
> Anachronistisch und ironisch, wild, schön, albern: „Anhedonia –
> Narzissmus als Narkose“ ist angenehm seltsames Kunstkino.
Bild: Ein Märchen? Robert Stadlober und Wieland Schönfelder in „Anhedonia“
„Seltsam“ ist sicherlich nicht zufällig das erste Wort, das wir in
„Anhedonia“ hören. Der Bildausschnitt ist schief, oben gerahmt von einer
Art flackerndem Vorhang, der Kamerablick ist aufs Meer gerichtet, dazu eine
Stimme aus dem Off: „Seltsam, im Nebel zu wandern. Einsam ist jeder Busch
und Stein. Kein Baum sieht den anderen. Jeder ist allein.“ Seltsam, auf
wundersame Weise, ist in der Tat auch das, was das Publikum in den nächsten
knapp 80 Minuten im Spielfilmdebüt des Künstlers Patrick Siegfried Zimmer
erwartet.
Nach dem anfänglichen Monolog über die Einsamkeit des Menschen begegnen wir
den beiden „Aristokratensöhnchen“ Fritz und Franz Freudenthal, deren
Anhedonie-Therapie auf Schloss Seelenfrieden, einem feudalen „Entzugs- und
Wellnessresort“, wir im Laufe des Filmes beiwohnen. Wir schreiben das Jahr
2020, in dem die titelgebende Krankheit als real existierendes Phänomen
(das die Unfähigkeit, Spaß und Lust zu empfinden, beschreibt) zur Epidemie
geworden ist.
So weit, so absurd. Die Brüder Freudenthal also (gespielt von Robert
Stadlober und Wieland Schönfelder) sind zwei kranke Dandys auf dem Weg der
Heilung. Ausgestattet mit Nadelstreifenanzug, Halstuch und Strohhut,
dialogisieren sie mal in Umgangssprache, mal in wohl gefeilten Texten,
hauptsächlich jedoch in Zitaten über ihren Zustand, Gott und die Welt.
Apropos Gott: Der ertönt als Stimme des Prof. Dr. Immanuel Young aus dem
Nirgendwo und instruiert die jungen Männer. Daneben: Blixa Bargeld als
Einmannchor Diabolus, ein Cheflakai namens Rüdiger und ein Regisseur, der
das ganze merkwürdige Treiben immer wieder unterbricht und als Film im Film
entlarvt.
Worum geht’s noch mal? Ach ja, darum, dass „tagtäglich Milliarden von
Menschen Opfer der digitalen, medialen, narzisstischen, hedonistischen,
karrieristischen und konsumorientierten Reizüberflutung und Suggestion
durch das Establishment“ werden. So weit zu einem Film, bei dem jeder
Versuch einer Inhaltsangabe schönerweise scheitern muss.
## Das Filmemachen miterzählt
Künstlichkeit ist in „Anhedonia – Narzissmus als Narkose“ Programm, und …
denkt man immer wieder an die Filme der DFFB-Studenten Julian Radlmaier
(“Ein Gespenst geht um in Europa“, „Ein proletarisches Wintermärchen“)…
Max Linz (“Ich will mich nicht künstlich aufregen“), wenn sich die
Inszenierung über weite Teile offenkundig und reflexiv selbst ausstellt,
das Filme- oder Kunstmachen im Film miterzählt wird und die Struktur des
Films eher in zerlegten Szenen als in einer kohärenten Handlung begreifbar
ist. Ein bisschen funkt auch der anarchische Charme von „Hans Dampf“ (Jukka
Schmidt und Christian Mrasek, 2013) auf, und das nicht nur wegen einer
leitmotivisch eingesetzten roten Pudelmütze in beiden Filmen.
Es geht anachronistisch und ironisch zu, auf das Nietzsche-Zitat folgt
Lachen aus der Konserve oder eine Slapstick-Einlage, mal ist die Situation
„degutant“, dann heißt es wieder: „Fick dich!“, wenn dem jähzornigen
Regisseur das Spiel von Stadlober und Schönfelder nicht gefällt und ihm
nach einer Brause mit Strohhalm dürstet.
Den wahren Regisseur Patrick Siegfried Zimmer sieht man im Film zwar nur
kurz in einem doppelten Cameo, jedoch hört man seine Musik und kann ihn
ohnehin schon lange aus der Musikwelt unter dem Namen „finn“ kennen. Für
seinen Erstlingsfilm, den er (zusammen mit Koregisseur Robert Stadlober) in
nur sieben Tagen und mit einem lachhaften Budget von 16.000 Euro bei
Hamburg und auf der nordfriesischen Insel Pellworm drehte, schrieb er
selbst das Drehbuch, verantwortete Casting, Produktion, Produktionsdesign
und Kostümbild und erfand zudem gleich noch das Seelenfrieden-Ensemble.
Warum? „Um den Film als Kollektivarbeit zu beschreiben, als
Ensembleleistung“, wie Zimmer sagt.
## Protagonisten mit Zitierwut
„Alleine entgeht mir so viel“, hat wiederum Theaterregisseur René Pollesch,
an dessen volksbühnisches Diskurstheater „Anhedonia“ stark erinnert, einmal
in Bezug auf das Arbeiten im Kollektiv gesagt und seine Schauspielerinnen
dann brüllen lassen, dass am Ende doch immer nur ein Name obendrüber steht:
„Rainer Werner Fassbinder!“ Oder eben Patrick Siegfried Zimmer! Oder eben
doch das Seelenfrieden-Ensemble.
Die oft ins Leere rennende Zitierwut der Protagonisten jedenfalls verbindet
Pollesch mit Zimmer, der von Aphorismen redet und davon, dass deren
Symbolik dafür stehe, dass der Mensch keine eigene Meinung mehr haben müsse
oder könne. Klaus Kinski, Hermann Hesse, Erich Kästner und die Bibel finden
im Wort, Surrealisten des Films wie Dalí oder Buñuel, „Star Wars“,
Tarantino oder Napoleon im Bild ihre Wege in den Film.
Freudenthal wegen Lilienthal oder Thalheimer, könnte man weiterdenken.
Dieser ständige Wechsel zwischen Poetik und Posse, Ernstgemeintem und
Dahingesagtem ist ein großer Spaß, wenn man dem Film seine wortlastige
Theaterhaftigkeit und seine inszenatorische Redundanz nicht übel nimmt,
seine reduzierten Schauplätze als Resultat von mangelnden Mitteln daraufhin
überprüft, welche Form von Film hier eigentlich unter welchen Umständen
entstehen konnte.
Und eben gerade dieses unterfinanzierte, ambitionierte Kunstkino sprüht
geradezu vor der Lust am Wilden, am Inkohärenten, am Diskursiven und
Albernen, am Abgefahrenen und Wiederverwerteten. Und es ist, was man immer
weniger im deutschen Film antrifft: wunderbar seltsam. Wobei wir wieder am
Anfang wären und beim Zitieren großer Denker, hinter denen man sich
verstecken könnte.
## Köstlich, kostbar, geschätzt, herrlich
Nehmen wir die Brüder Grimm und ihr „Deutsches Wörterbuch“. Dort steht
unter „seltsam“: „durch unhäufige, besondere art in gutem sinne
ausgezeichnet, köstlich, kostbar, geschätzt, herrlich“. Kostbar und
unhäufig, weil hier mit ungewohnten Mitteln Witz erzeugt wird, ohne dass
zum Beispiel ein kleinkrimineller Gesamtschullehrer seine verzogene
Schulklasse nach Thailand fahren müsste, wo Pingpong-Bälle in Vaginas
stecken bleiben und Kokosnüsse auf Fernsehstars fallen – was immerhin
sieben Millionen Deutschen gefällt.
Kostbar, weil minimale Fördertöpfe, unter anderem der des Maxim Gorki
Theaters, genügen, um eine Gruppe von Filmenthusiasten dazu zu bewegen, ein
sperriges, eigenwilliges Projekt in kürzester Zeit auf die Beine zu stellen
und für minimale Gagen zu arbeiten.
Geschätzt, aber nicht von vielen. Das spiegelt sich immer wieder in den
BesucherInnenzahlen der Filme, deren RegisseurInnen in erster Linie für
sich und ihre Ideen, aber nicht für die Vorstellung eines vermeintlichen –
von GeldgeberInnen und mutlosen RedakteurInnen bekräftigten –
Publikumsgeschmacks Projekte für das Kino verwirklichen.
Herrlich, weil es genügend absurde Momente und Dialoge im Film gibt, vor
allem dann, wenn das erste Schauspiel endet und die DarstellerInnen, stark
berlinernd oder gegen den Regisseur aufbegehrend, aus ihren Rollen fallen.
„Kein Baum sieht den anderen. Jeder ist allein“ trifft vielleicht auch auf
den hart umkämpften Markt des deutschen Verleihgeschäfts zu. Und so tritt
„Anhedonia“ in dieser Woche gegen elf internationale Filmproduktionen in
gerade mal zwölf deutschen Städten an. Seltsam, im schlechten Sinne, das
deutsche Filmgeschäft. Seltsam, im guten Sinne, dieser deutsche Film.
30 Mar 2016
## AUTOREN
Toby Ashraf
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