# taz.de -- Begegnung von Kunst und Kino: „Kleines Märchen der Gentrifizieru… | |
> Alles begann mit einer Bank, die nicht überfallen werden wollte. Der | |
> Videokünstler Omer Fast über seinen ersten Kinofilm „Remainder“. | |
Bild: Tom arbeitet an seiner Vergangenheit: Still aus „Remainder | |
taz: Herr Fast, Sie arbeiten seit vielen Jahren als Videokünstler. Ihre | |
Arbeiten waren als Installationen im Ausstellungskontext, aber auch im | |
Rahmen von Festivals auf der Kinoleinwand zu sehen. Was war Ihre | |
Motivation, mit „Remainder“ nun einen Film zu machen, der ausschließlich im | |
Kino zu sehen ist? | |
Omer Fast: Ich hatte Lust, mit einem größeren Budget zu arbeiten und etwas | |
Neues auszuprobieren. Jetzt wirkt es zwar so, als sei dies zwingend der | |
nächste Schritt in meiner Arbeit gewesen, tatsächlich war das Projekt aber | |
schon seit Jahren in Planung. Am Anfang standen Gespräche mit dem Autor Tom | |
McCarthy über seinen Roman „Remainder“ [deutscher Titel: „8½ Millionen�… | |
Anm. d. Redaktion], dann führte eines zum anderen. Einen Roman zu | |
adaptieren und daraus eine filmische Erzählung zu machen war für mich eine | |
Herausforderung. | |
„8½ Millionen“ beginnt aus der Perspektive der Hauptfigur Tom. Der kann | |
sich nur noch daran erinnern, dass etwas vom Himmel auf ihn hinabfällt, | |
aber an sonst nichts. Was hat Sie daran gereizt, gerade diesen Roman zu | |
adaptieren? | |
Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Im Roman rekonstruiert Tom aufgrund | |
seiner Amnesie seine Erinnerungen, die darin gipfeln, dass er einen | |
Banküberfall inszeniert. Als ich 1998 an der Kunsthochschule in New York | |
war, hatte ich die Schnapsidee, dort einen Banküberfall zu inszenieren. Ich | |
bin also zu einer Bank gegangen und habe mir einen Termin geben lassen. Sie | |
dachten zuerst, ich wollte Kunde werden, aber ich sagte dann: „Passen Sie | |
auf, ich will hier einen Überfall inszenieren, ich bin Künstler. Ihre | |
Kunden sollen davon aber nichts wissen.“ Das Gespräch war dann sehr kurz, | |
und man bedankte sich, dass ich gekommen war, und sagte mir, dass das auf | |
keinen Fall ginge. Die Idee, die Kunst und das Leben in einer Art | |
Performance zusammenzubringen, gab es schon damals. Als ich dann später den | |
Roman las, bemerkte ich viele Parallelen zu eigenen Ideen. Obwohl die | |
Erzählung des Romans nicht auf einer bestimmten Theorie fußt, hat sie viel | |
mit Kunst zu tun. | |
Das Performative durchzieht den ganzen Film, denn Tom inszeniert mit Hilfe | |
von Schauspielern seine Erinnerungen. In anderen Videoarbeiten von Ihnen | |
sehen wir Menschengruppen in Form von Tableaux vivants, die zu Bildern | |
gefrieren. Immer wieder finden so surreale Momente ihren Weg in die | |
realistischen Erzählungen. Was interessiert Sie daran? | |
Das Performative und Ideen wie die Tableaux vivants interessieren mich im | |
Filmischen deshalb so, weil man sofort erkennt, dass sie „falsch“ sind, | |
also stilisiert oder manieriert. Trotzdem möchte ich daraus eine | |
Dramaturgie und eine Art Erzählung extrahieren, denn ich mag die Spannung, | |
die aus solchen Momenten entsteht. Ich interessiere mich nicht für absolut | |
naturalistische Handlungen. „Remainder“ arbeitet verhältnismäßig wenig m… | |
solchen Momenten, und dennoch ist Tom damit beschäftigt, sein Leben durch | |
das künstlerische Inszenieren solcher Momente zu verstehen, obwohl er | |
selbst kein Künstler ist. Er nutzt die Methoden und Strategien eines | |
experimentellen Regisseurs oder eines Performance-Künstlers. Er fängt also | |
durch das Performative an, seine eigene Vergangenheit als künstlerische | |
Angelegenheit zu sehen. Mich hat interessiert, dass Tom naiv und intuitiv, | |
also ohne von einer Theorie geleitet zu sein, handelt. | |
In „Remainder“ geht es auch um Gentrifizierung und Kapitalismuskritik, wenn | |
Tom mithilfe seines Schmerzensgelds Menschen für sein Erinnerungsprojekt | |
aus ihrem Haus vertreibt. Ist es Ihnen wichtig, als politischer Künstler | |
verstanden zu werden? | |
Der Film hat eine politische oder eher soziale Dimension, denn die | |
Entfaltung der künstlerischen Tätigkeit von Tom findet in einem konkreten | |
sozialen Raum statt. Dieser Raum liegt im Londoner Stadtteil Brixton, und | |
die Menschen, die man bei der Zwangsräumung sieht, sind nicht Teil der | |
künstlerischen Fantasie. Es ist zwar nur ein Nebenstrang des Films, aber es | |
geht darum, welche Konsequenzen Toms Handeln für den sozialen Raum hat. Für | |
mich ist es ein kleines Märchen der Gentrifizierung, das man in „Remainder“ | |
sieht. | |
„Remainder“ spielt in England. Ist das in Ihren Augen ausschlaggebend, oder | |
könnte der Film auch in anderen Ländern spielen? | |
Ich sehe in „Remainder“ eine Resonanz auf postkoloniale Entwicklungen. Im | |
Mittelpunkt der Erzählung steht ein weißer Protagonist, der im Grunde ein | |
neues Territorium erobert, es gentrifiziert und nach eigenen Wünschen | |
ändert. Der Roman spielt in London, und aus England kamen auch die Gelder | |
zur Finanzierung. Es gab nie die Überlegung, den Handlungsort zu verlegen, | |
obwohl der Film wahrscheinlich auch in Frankreich und vielleicht weniger in | |
Deutschland spielen könnte. | |
Es macht einen Unterschied, Ihre Arbeiten im Ausstellungskontext, wie | |
zuletzt in Paris, London oder New York, oder im Kinosaal zu sehen. Was | |
bedeutet das Kino als Ort für Sie? | |
Viele meiner Arbeiten funktionieren in beiden Kontexten. Im Kino erreicht | |
man ein anderes Publikum, und im Kunstraum eine Arbeit von 85 Minuten zu | |
sehen ist auch nicht jedermanns Sache. In einer Kinosituation ist man für | |
das ganze Ritual eher bereit. Man weiß: Ich gönne mir jetzt eine kleine | |
Welt in einer Erzählung von 90 Minuten. | |
Das erlebt man im Museum eher selten. | |
In der Kunst hat man diese chaotische Situation, die ich auch sehr mag, wo | |
Leute ständig rein und raus gehen und man viel härter arbeiten muss, um die | |
Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen und zu halten. Kino ist im Grunde ein | |
Limbus. Es negiert Raum, es negiert Geräusche, und es negiert andere Blicke | |
und macht Leute passiv. Hier muss man härter daran arbeiten, die Leute | |
wieder auf das Reale hinzuweisen. Ich finde das Spiel mit Wahrnehmung und | |
Realität in Kunsträumen viel leichter. Im Kino sitzt man in der Dunkelheit | |
in einer kleinen Fantasiewelt. Die Räumlichkeit, die das Kino anbietet, ist | |
deshalb für manche Arbeiten ein bisschen heikel. Technisch gesehen ist es | |
natürlich wunderbar, da man keine Ablenkung hat. | |
Gerade durch die fehlende Ablenkung und die quasi zwanghafte Situation, für | |
eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort in eine bestimmte Richtung zu | |
gucken, ist das Kino ja auch ein viel autoritärerer Raum. In einer Galerie | |
kann man einen Teil des Films sehen oder man sieht den Film mehrfach | |
hintereinander. Mögen Sie diese Autorität der Kinoerfahrung in Bezug auf | |
Ihre Filme? | |
„Remainder“ ist im Gegensatz zu meinen anderen Filmen weniger ein | |
Experimentalfilm und versucht auch nicht, die Bedingungen der Black Box zu | |
hinterfragen. Er hat eine abgeschlossene Handlung und funktioniert auf 90 | |
Minuten, wobei es natürlich in meinem Kopf viele verschiedene Versionen | |
dieses Films gibt. | |
Was für Versionen denn? | |
Eine davon ist zum Beispiel ein Zwölf-Stunden-Film, der sich viel mehr mit | |
dem Mysterium beschäftigt hätte, was wir als Wesen im Raum machen. Was | |
machen wir mit Zeit? Wie lenken wir unsere Wahrnehmung und unser | |
Bewusstsein? Wie stricken wir diese Fiktion zusammen, dass wir kohärente | |
Wesen sind, wenn doch alles dagegen spricht? „Remainder“ versucht das zu | |
erzählen, aber wir hätten nie unsere Finanzierung bekommen, wenn der Film | |
zwölf Stunden lang gewesen wäre. | |
12 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Toby Ashraf | |
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