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# taz.de -- Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus: Die Rückkehr der Gabe
> Neue Gemeinschaftlichkeit oder neue soziale Spaltung? Die Soziologinnen
> Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren einen
> „Community-Kapitalismus“.
Bild: Wenn die Zivilgesellschaft einspringen muss: Essensausgabe beim Verein �…
Die Community ist gut. Wo sonst Entfremdung, Bürokratie und Kälte
herrschen, ist es in der Community wohlig warm. Das legt zumindest meist
der Alltagsgebrauch des Begriffs nahe, sogar dann, wenn die Community nur
digital auftritt. Doch Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinschaft. Es gibt
antimoderne, nostalgische Bezüge von rechts, nichttraditionale Bezüge von
links und immer öfter auch Anrufungen „sorgender Gemeinschaften“ seitens
der offiziellen Politik.
Die Gemeinschaftsidee ist en vogue. Und lässt man die Perversion zur
Volksgemeinschaft einmal kurz beiseite, gibt es an der Gemeinschaftsidee
angeblich wenig zu kritisieren.
Doch, sagen die Soziologinnen [1][Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem
klugen Buch „Community-Kapitalismus“] und wollen zeigen, wie die
Gemeinschaft(sidee) in der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise
des neoliberalen Kapitalismus zur zentralen Ressource und
Steuerungstechnologie wird.
Heißt: Der Kapitalismus stellt gerade wieder einmal seine
Wandlungsfähigkeit unter Beweis, und damit geht es um die „Erschließung
neuer, nicht kommodifizierter Räume und neuer Trägergruppen nicht regulär
entlohnter Arbeit“.
## Krise des neoliberalen Kapitalismus
Ging es in der Analyse des neoliberalen Kapitalismus nicht gerade noch um
das unternehmerische Selbst, das selbstoptimiert und eigenverantwortlich in
Konkurrenz zu anderen steht? Ja, im Übergang von der wohlfahrtsstaatlichen
Disziplinargesellschaft zur neoliberalen Kontrollgesellschaft ist eine
Ökonomisierung des Sozialen beobachtbar. Doch die Rede von der
Ökonomisierung des Sozialen greift den Autorinnen zu kurz.
Vielmehr erlebten wir „eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in
der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren
jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden“. Grund dafür sei die
Hegemoniekrise des Neoliberalismus (spätestens seit der Finanzkrise) sowie
die Krise der sozialen Reproduktion (familialer und demografischer Wandel,
Wohlfahrtsstaatsabbau) und die Digitalisierung (neue Vergemeinschaftungen).
Der kooperative Aspekt neuerer Arbeitsformen und die Ausbeutung des so
genannten „Gemeinsamen“ ist von einigen [2][(post-)operaistischen
Theoretiker:innen bereits mit dem Begriff immaterielle Arbeit]
analysiert worden.
Van Dyk und Haubner schließen daran an (wie auch an die Forschung zur
Care-Arbeit) und möchten nun eine weitere Verschiebung herausstellen,
nämlich die Adressierung „gemeinschaftsförmiger (Selbst-)Hilfepotenziale
der Zivilgesellschaft“ – weshalb sie von „Community-Kapitalismus“ sprec…
## Lösung der sozialen Frage
Ist es also kein Zufall, dass das Lob des Engagements, des Gemeinsinns und
der gegenseitigen Hilfe uns überall entgegenschallt? Man denke nur an die
Pandemie und die Flutkatastrophe, die gegenseitige Hilfe jenseits
entlohnter Arbeit notwendig werden ließen.
Wo viel gelobt wird, wird auch viel verschleiert, denn wo „Arbeit in Hilfe,
Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird“, wo also
Ressourcen der Zivilgesellschaft aktiviert werden, um Lücken der
staatlichen Versorgung zu schließen, so die Autorinnen, wurde die Lösung
der sozialen Frage in die Hände der Zivilgesellschaft gelegt.
Van Dyk und Haubner geht es nicht um eine pauschale Verurteilung von
Freiwilligenhilfe oder von Alternativökonomien (trotz unzureichender
Kapitalismusanalyse), wie sie immer wieder betonen. Aber sie wollen zeigen,
wie sich entlang von Posterwerbsarbeit eine Neuausrichtung des
gegenwärtigen Kapitalismus vollzieht. Dafür haben sie empirisch Formen von
Freiwilligenarbeit, nicht entlohnte Mehrarbeit und vor allem nicht regulär
entlohnte Arbeit in der Pflege oder auf digitalen Plattformen untersucht.
Sie können klar belegen, wie beispielsweise der Abbau sozialer Sicherungen
und Kosteneinsparungen auf kommunaler Ebene oder im Gesundheits- und
Pflegebereich mit der Aufwertung des Gemeinwohldienstes, also freiwilliger
Arbeit, einhergehen. – Mit entsprechenden ideologischen Implikationen,
wie der Überzeugung etwa, dass Engagement nichts mit Ökonomie zu tun habe,
gar das Gegenteil einer zunehmenden Ökonomisierung sei. Die Thematisierung
der Deprofessionalisierung von Arbeit, von neuen Abhängigkeitsverhältnissen
und Interessensgegensätzen fallen da hinten runter.
## Vergiftete Früchte
Was als soziale Frage adressiert wurde, werde in eine Frage fürsorglicher
Gemeinschaften umgedeutet und soziale Rechte in soziale Gaben überführt.
Die Autorinnen problematisieren diesen Aspekt sehr schön mit dem
Philosophen Roberto Esposito, der mit der Gabe verbundene
Abhängigkeitsverhältnisse herausstellte und im Vertrag (und Recht) die
zentrale Institution des „immunitären Projekts der Moderne“ ausmachte,
welches die „vergifteten Früchte“ der Gabe aufhebe.
Van Dyk und Haubner lesen die Verlegung der sozialen Frage in die
Zivilgesellschaft als „unausgesprochene Wiederkehr der Gabe in den
sozialpolitischen Diskurs“.
Wollen sie also zurück zum Wohlfahrtsstaat – zu Normalarbeitsverhältnissen,
Normalbiografien und Kleinfamilie und den damit verbundenen
Reproduktionsverhältnissen? Freilich wollen sie das nicht. Der normierende
Wohlfahrtstaat ist nicht, wie sie betonen, die inkludierende,
sicherheitsstiftende Antwort auf die soziale Frage.
Aber – und das unterscheidet ihren von vielen anderen linken Ansätzen, wie
zum Beispiel, wer sich erinnert, dem konvivialistischen Manifest von
Chantal Mouffe, Eva Illouz etc., auf das sie Bezug nehmen – sie halten es
für einen groben Fehlschluss, „die freiheitsverbürgende und
autonomiestiftende Funktion sozialer Institutionen und sozialer Rechte“
geringzuschätzen.
Emanzipation verorten sie nicht einfach in Gegenbewegungen von unten,
sondern heben die autonomiegebende Funktion sozialer Rechte und ihrer
Institutionalisierung hervor, eben weil diese von moralischen Beziehungen
abstrahierten. Es gelte diese zu universalisieren, statt sie auszuhöhlen.
## Ein starkes Plädoyer
Augenfällig wird diese Notwendigkeit auch – wenn man hier anschließen
wollte – in den prekarisierten Arbeitsverhältnissen der Plattformökonomien.
Erst kürzlich verkündete der Chef des Lieferdienstes Gorillas, Entlassungen
wären „im Interesse der Community“.
Aber das ist nur ein Aspekt der von Haubner und van Dyk beschriebenen
Konstellation, die aus der Verbindung von Posterwerbsarbeit und
Gemeinschaftspolitik hervorgeht. Ihr Buch ist eine wichtige Ergänzung zur
Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und ein starkes Plädoyer für eine
staatlich garantierte, aber strikt vergesellschaftete Infrastruktur.
21 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.hamburger-edition.de/buecher-e-books/artikel-detail/community-k…
[2] /Demokratie-von-Negri--Hardt/!5071484
## AUTOREN
Tania Martini
## TAGS
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