# taz.de -- Neues von der Frankfurter Buchmesse: Kein Ende der Gutenberg-Galaxis | |
> Frankreich beflügelt die Fantasien der Buch-Branche im grundlegenden | |
> Umbruch. Ein erfreulich ungekünstelter Auftritt des Gastlandes. | |
Bild: Zauber des seitlich dran Vorbeigehens: der Pavillon Frankreichs auf der B… | |
Eine große Frau in einem roten Kostüm stand aufrecht und mit voller | |
Körperspannung inmitten des Trubels vor der Halle 4.1 und schaute nach | |
vorn. Sie machte nichts anderes. Sie stand nur und schaute, bestimmt zwei | |
Minuten lang, während die anderen Besucher an ihr vorbeihetzten, auf ihren | |
mobilen Endgeräten wischten, sich vor der Rolltreppe stauten, sich | |
begrüßten, Blickkontakt suchten oder mieden, Promis entdeckten, Promis | |
waren und kurz an einem Brötchen kauten. | |
Es gibt bestimmt intelligentere journalistische Darstellungsformen als | |
einen Buchmessenbericht in Form eines schlendernden Ganges durch die | |
Messehallen. Aber die Szene mit der Frau in Rot war schon mal ein gutes | |
Bild. Für einen Moment schien es, als sei die Zeit angehalten. Und man sah | |
sich um und realisierte, wie seltsam eigentlich und auch wie kostbar so | |
eine Messe in Wirklichkeit ist. Das Besondere an ihr sind ja nicht die | |
Menschen oben auf den Podien, sondern die vielen, vielen Menschen, die | |
ihnen zuhören und nach Frankfurt kommen, um irgendwie in der Nähe der | |
Bücher zu sein. | |
Ob der Buchmarkt in einer Krise ist, ist in Frankfurt ein vielbesprochenes | |
Thema. Heinrich Riethmüller vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels | |
vermittelte offiziell eher den Eindruck: So wild sei das alles gar nicht. | |
Diese Meinung hatte er eher exklusiv. Hinter vorgehaltener Hand – und der | |
Diogenes-Verleger Philipp Keel auch öffentlich im FAZ-Interview – berichten | |
viele Buchmenschen durchaus von schlechten Bilanzen. Wobei für die | |
ernsthafte Literatur gerade das Wegbröckeln der mittleren Auflagen ein | |
Problem ist. Man kann immer noch große Verkäufe landen – oder gleich einen | |
Auflagenflop; der Raum dazwischen schrumpft. | |
## Der schlendernde Blick | |
Inmitten dieses unglaublichen Trubels in Frankfurt sieht man aber auch, auf | |
was für einem massiven Fundament von Interesse, Aufmerksamkeit und | |
Leidenschaften die ganze Buchbranche sitzt. | |
Der schlendernde Blick, der Zauber des seitlich dran Vorbeigehens, den | |
schon Max Goldt besang, ist vor allem aber auch die Realität auf der Messe. | |
Eben gerade hat man sich noch Gedanken darüber gemacht, was der neu | |
gestaltete Stand des Aufbau-Verlags bedeutet; er ist hell gehalten und | |
strahlt eher eine gute Arbeitsatmosphäre als kuschelige Gemütlichkeit mit | |
dir und deinem Buch aus. Dann saß da, um die Ecke, mit einem Mal Salman | |
Rushdie an einem Tisch und signierte gejetlagt Bücher. | |
Eine Rolltreppe weiter gab es einen Roboter, der mit seinem Greifarm | |
akkurat Texte schreiben konnte und womöglich die Zukunft des Buchdrucks | |
darstellen sollte. Wieder etwas weiter war man tief drin in der | |
Vergangenheit: Antiquitäten in Vitrinen. Ganz großartig die Stiche | |
verschiedener Drachen in einem Band von 1657, der für 1.200 Euro zu haben | |
war. | |
In der Halle der ausländischen Verlage verströmte der Stand Kataloniens | |
viel Wille zur Unabhängigkeit; er wirkte glatt größer und gewichtiger als | |
der Stand Spaniens daneben. Und spätestens beim dritten Live-Interview mit | |
dem Buchpreisgewinner Robert Menasse fiel einem auf, dass er jetzt vor | |
allem politisch nach dem Stand der EU gefragt wird und nicht literarisch | |
nach Machart und Textintention seines Romans „Hauptstadt“. Roman der Stunde | |
nennt man so etwas. | |
## Baudelaire, Macron und ein neuer europäischer Geist | |
Wechselnde Einsichten. Eindrücke in Hülle und Fülle. Die interessantesten | |
Themen sind dann die, die sich aus der Summe dieser Gespräche und Szenen | |
allmählich und sozusagen naturwüchsig entwickeln. Frankreich gehörte | |
unbedingt zu diesen Themen. Dieser Gastlandauftritt hat nichts Künstliches | |
und Gewolltes so wie manch anderer zuvor. | |
Anschwellendes Mitteilungsbedürfnis gab es auf den Partys und in den | |
Messeständen darüber, dass die Literatur aus Frankreich derzeit offenbar | |
wirklich sehr interessant ist. Fotos, auf denen man neben Michel | |
Houellebecq stand, zum Beispiel auf dem Messefest des Verlegers Joachim | |
Unseld, wurden stolz herumgezeigt. Dass der Staatspräsident Macron nicht | |
nur Baudelaire, sondern auch Walter Benjamins Interpretationen von | |
Baudelaire studiert hat, wurde bestaunt. Dass wiederum Didier Eribon | |
seinerseits nicht nur auf Macron schlecht zu sprechen ist, sondern auch auf | |
die Wochenzeitung Die Zeit, die es gewagt hatte, kritische Anmerkungen zu | |
Eribons neuem Buch zu drucken, ging von Mund zu Mund. | |
Und als beim Kritikerempfang des Suhrkamp Verlags die Autoren Éduard Louis, | |
Annie Ernaux und Didier Eribon traut an einem Tisch zusammensaßen, bildete | |
sich schnell ein leicht andächtiger Fankordon um den Tisch herum. Kurz, | |
Frankreich beflügelte tatsächlich die intellektuellen Fantasien. Vielleicht | |
ist ja doch etwas dran an einem neuen europäischen Geist auf einem | |
deutsch-französischen Fundament. | |
## Bäumchen wechsel dich | |
Ein leiseres, aber deutlich in der Branche wahrnehmbares Messethema sind | |
die vielen Wechsel auf den Verleger- und Lektorenposten. Der bisherige | |
Aufbau-Chef Gunnar Cynybulk wird Verleger bei Ullstein, deren bisherige | |
Verlegerin Siv Bublitz wiederum Verlegerin beim Fischer Verlag wird. Der | |
Lektor bei Kiepenheuer & Witsch, Olaf Petersenn, geht zu Piper, seinen | |
Platz nimmt wiederum Jan Valk von Dumont ein. Die Lektorin Lina Muzur geht | |
von Aufbau zu Hanser Berlin und noch manche Personalie mehr. | |
Das ist mehr als nur ein Austausch von Namen. An jeder dieser Personalie | |
hängen Schicksale von Autoren und Büchern, auch von den Verlagen selbst. | |
Man darf etwa davon ausgehen, dass die Krimis von Volker Kutscher bald | |
nicht mehr bei Kiepenheuer & Witsch, sondern bei Piper erscheinen werden, | |
und kann darüber spekulieren, dass Joachim Meyerhoff mit seinen | |
autobiografischen Erinnerungsbüchern ihm folgen wird. Beide sind große | |
Umsatzbringer. | |
Vielleicht ist diese Ansammlung von Personalien in den Programmleitungen | |
der Verlage nur Zufall. Wahrscheinlicher ist, dass sie vor dem Hintergrund | |
der Nervosität der Branche zu sehen sind. | |
Die E-Book-Revolution mag zwar ausgefallen sein; die Deutschen, da sind | |
sich viele Gesprächspartner in Frankfurt sicher, wollen gedruckte Bücher in | |
Händen halten. Aber dafür müssen sich die Verlage (und die Autoren) für | |
jedes einzelne Buch auf eine komplizierte Mischkalkulation aus Print, | |
E-Books, Lesungen und Buchpreisen einstellen. Und vielleicht wandelt sich | |
inmitten dieser Transformation auch der Lektoren- und Programmleiterjob | |
etwas weg vom Kern der einsamen Textarbeit im Büro hin zu einer eher | |
kuratorischen Tätigkeit, bei der man sein Programmprofil nicht nur immer | |
wieder herstellen, sondern auch inszenieren muss, inklusive Eventmanagement | |
und Präsenz in den sozialen Medien. | |
Darüber das Ende der Gutenberg-Galaxis auszurufen, ist Quatsch. Nur weiß | |
eben noch niemand, wie sie einmal aussehen wird. | |
## Langsame gründliche Transformation | |
Die Transformation in der Buchbranche insgesamt, auch diesen Gedanken kann | |
man aus Frankfurt mitnehmen, vollzieht sich dabei ziemlich gründlich, vor | |
allem aber auch ziemlich langsam. Und sie kann ja einfach auch gelingen. So | |
wie beim Suhrkamp Verlag, deren große Dramen nach dem Tod der | |
Verlegerlegende Siegfried Unseld inklusive Gerichtsprozessen und seelischen | |
Abgründen sich nun mit dem endgültig installierten Verleger Jonathan | |
Landgrebe wie Episoden inmitten so einer gelungenen Transformation lesen | |
lassen. Sie hat eben nur, 2002 ist Siegfried Unseld gestorben, 15 Jahre | |
gebraucht. | |
Wie heftig persönliche Schicksale an so einer Transformation hängen, kann | |
man an dieser jetzt langsam in die Vergangenheit absinkenden Transformation | |
aber auch sehen. | |
Irgendwann fing die Frau im roten Kostüm vor der Halle 4.1 übrigens noch | |
wie ins Nichts zu sprechen an. Ein ganz kurzer Moment von: Die hat sie doch | |
nicht alle. Aber dann erkannte man sie. Es war die Moderatorin Cécile | |
Schortmann, die gerade eine Anmoderation möglicherweise für die Sendung | |
„Kulturzeit“ aufzeichnete. Und dann sah man auch die Kamera zwanzig Meter | |
weiter weg stehen. | |
14 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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