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# taz.de -- Michel Houellebecq bei der Buchmesse: Kompetenzzentrum für Erotik
> Houellebecq spricht im Frankfurter Schauspielhaus. Sein furioser Monolog
> bestätigt die Vermutung, er sei mehr frankophob als islamophob.
Bild: Michel Houellebecq liest im Schauspiel Frankfurt anlässlich der Buchmesse
Der französische Pavillon, Herzstück des Buchmessen-Auftritts, ist als
begehbare Bibliothek mit Regalen installiert. Sein Literaturprogramm mit
Begleit-Performances wirkt dadurch offener: Mimen halten Rohre an die Ohren
Vorbeischlendernder und flüstern ihnen Gedichte ein. Teenager rezitieren
Klassiker. Wer will, kann sich auch geschlossenen Auges durchs Areal führen
lassen – um dem Geschehen zu lauschen.
Dann gibt es noch eine unfreiwillige Performance, dargeboten von den
BesucherInnen selbst: Die Bibliothek ist von einer leicht zu übersehenden
Stufe eingefasst. Stolperszenen häufen sich. Dies erinnert an den Running
Gag des US-Films „Prêt-à-porter“, in dem Protagonisten versehentlich in
Hundehaufen treten.
Auch manche nach Frankfurt geladene französische AutorInnen sind darauf
spezialisiert, in die Scheiße zu treten – und kräftig umzurühren, bis der
Gestank nicht mehr ignoriert werden kann: Schonungslos legen sie die Risse
hinter der schicken Fassade offen, an denen Frankreich aktuell zu
zerbrechen droht. Zeremonienmeister dieser Kunst ist der 61-jährige Michel
Houellebecq. Am Mittwoch sprach er im Frankfurter Schauspielhaus.
Laut Programm war der Abend seinem vorletzten Werk „Unterwerfung“ gewidmet.
Darin entwarf er ein islamisiertes Frankreich, in dem Extremisten die
Präsidentschaftswahl 2022 gewonnen hatten. Als der Roman am 7. Januar 2015
erschien, zierte Houellebecq, zum Hellseher karikiert, das Cover von
Charlie Hebdo, flankiert vom Spruch: „Die Prophezeiungen des Magiers“. Zum
Lachen war’s nicht: Gleichentags ermordeten Islamisten bei dem Anschlag auf
die Redaktion des Satire-Magazins acht Mitarbeiter.
Im Schauspielhaus saßen neben Houellebecq die Übersetzerin Marianne Crux
und die Literaturwissenschaftlerin Agathe Novak-Lechevalier auf dem Podium.
Nach ihrer Vorstellung legte der Star los und hob zu einem improvisierten
Monolog an. Zunächst fragte er, ob man sich hierzulande bewusst ist, wie
viel in Frankreich zuletzt über Deutschland geredet worden war. In
unzähligen Beiträgen verglich man sich mit dem Nachbarland, wobei die
Urteile stets zu Ungunsten Frankreichs ausfielen.
„Seit Macron ist das anders“, sagte er lakonisch. „Wir sind wieder
zufrieden mit uns und prangern die Schwächen des deutschen Systems an.“ Es
werde zwar noch dauern, bis Frankreich wieder zu alter Arroganz gefunden
habe; bis dahin sei jede Gelegenheit gut, auch der Auftritt bei der
Buchmesse trage dazu bei. Ob Frankreichs Literatur diese Ehre verdiene,
orakelte er, und antwortete mit: „Ja“.
## Skandinavische Krimis lese er eifrig
Schließlich richtete er den Blick auf Europa, um festzustellen, dass es um
die Kultur allgemein schlecht bestellt sei. Im 20. Jahrhundert ist der rege
Austausch zwischen den Ländern ins Stocken geraten, man würde nur noch die
je eigene Nationalliteratur lesen und Übersetzungen aus dem Englischen.
Ausnahmen bilden der magische Realismus Lateinamerikas und skandinavische
Krimis. Was mit Ersterem gemeint sei, habe er nie verstanden, Nord-Krimis
lese er eifrig, wobei er sich die geschilderte Gewalt kaum vorzustellen
vermag.
Übergangslos schlug er vor, sich für deutsche Erotikromane starkzumachen –
Deutsche hätten darin gewisse Kompetenzen. Unterhaltsam führten
Houellebecqs Gedankenströme zu Geständnissen, die ihn – so leid es ihm tue
– fast links einordnen lassen: „Europas Staaten müssen Übersetzungen
fördern“, verkündete er, „solange es noch etwas zu übersetzen gibt.“ In
vielen Ländern sei die Musik-, Film- und Literaturproduktion bereits
eingestellt worden. Dass Frankreich in der besonderen Lage sei, eine
qualitativ erfolgreiche Szene zu präsentieren, verdanke sich der
Kulturpolitik der Sozialisten, welche die Quote gefördert hat.
Am Ende hatte Houellebecq so gut wie nichts zur „Unterwerfung“ gesagt. Das
fiel erst auf, als Agathe Novak-Lechevalier ihn fragte, wieso der Roman in
Deutschland einstimmiger als in Frankreich aufgenommen wurde. Houellebecq
seufzte auf. Er wisse es nicht. Wenngleich sein furioser Monolog die
Vermutung bestätigte, Houellebecq sei mehr frankophob als, wie oft
unterstellt, islamophob; dass er mit keinem Wort auf den Vorwurf einging,
„Unterwerfung“ sei ein „Geschenk für Marine Le Pen“ gewesen und zu den
bewegten Zeiten Frankreichs seit 2015 schwieg, ist ein Versäumnis.
12 Oct 2017
## AUTOREN
Elise Graton
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