| # taz.de -- Die Wahrheit: Tea for two Tränentiere | |
| > Zur französischen Woche der Wahrheit treffen sich die Geistesgrößen | |
| > Jean-Paul Sartre und Michel Houellebecq mittenmang in Berlin. | |
| Bild: Draußen vor der Tür in Berlin-Wilmersdorf: Michel Houellebecq raucht no… | |
| Eine Eckkneipe in Berlin-Wilmersdorf. Vergilbte Gardinen vor den Fenstern, | |
| Deckchen auf dem Tisch. Die Jukebox läuft, Malle-Schlager. Am Tresen | |
| kritzelt ein Mann Bierdeckel voll, dahinter steht eine freundlich | |
| dreinblickende mittelalte Wirtin, sie stützt sich mit beiden Händen an der | |
| Ablage ab. Im hinteren Bereich, in der dunkelsten Ecke, sitzt Jean-Paul | |
| Sartre vor einer Tulpe Schultheiss. Er stiert ein Loch in den Tisch, als | |
| sich die Tür öffnet; mit breitem Lächeln, die Arme ausgebreitet, betritt | |
| Michel Houellebecq den Raum, die Haare sauber gescheitelt, ein weißes Hemd | |
| akkurat in der Hose verstaut. | |
| Als er Sartre sieht, hebt er die rechte Hand; jener nickt ihm seitwärts zu. | |
| Houellebecq durchschreitet den Raum, als wäre der ein Ballsaal, greift sich | |
| einen Stuhl und während er sich setzt, ertönen die ersten Takte von „Das | |
| rote Pferd“. Houellebecq stutzt, dann wendet er sich verschwörerisch Sartre | |
| zu: „Man spielt hier Piaf? Milord?“ | |
| Sartre seufzt. „Markus Becker.“ Er trinkt einen Schluck, verzieht das | |
| Gesicht, während die Fliege abgewehrt wird. „Die Deutschen: ein Volk von | |
| Idioten und Barbaren.“ Houellebecq lacht; dabei wirft er den Kopf in den | |
| Nacken; man sieht, dass seine Backenzähne ohne Füllungen sind. Die Wirtin | |
| schiebt sich hinter dem Tresen hervor und kreiselt Richtung Tisch; dabei | |
| nutzt sie immer ein Bein als Standachse, während sie die andere | |
| Körperhälfte um 120 Grad nach vorne wuchtet. | |
| Hüft-OP, denkt Sartre. Schöne Scheiße. Houellebecq hingegen sieht ihr | |
| freundlich ins Gesicht und sagt: „Ein Leitungswasser, s’il vous plaît.“ | |
| Dann, zu Sartre gewandt: „Das Berliner Leitungswasser ist von | |
| außergewöhnlicher Qualität. Es ist bekömmlicher als abgefülltes | |
| Mineralwasser, und es hat einen hohen Kalzium- und Magnesiumgehalt. Das | |
| liegt an den Muschelsedimenten im Erdreich.“ | |
| „Interessant“, sagt Sartre, und zur Wirtin hin: „Noch zwei, bitte.“ Die | |
| Wirtin nickt, der Mann am Tresen lacht; hoch und meckernd, wie eine | |
| schleudernde Waschmaschine. Houellebecq hebt die Augenbrauen: „Was ist denn | |
| das für einer?“ | |
| Sartre zuckt mit den Achseln. „Das ist Raymond Queneau.“ Er trinkt einen | |
| Schluck. „Gestern hat er Pilze genommen, jetzt hält er sich für Robert | |
| Walser.“ Er deutet auf die Bierdeckel auf dem Tresen. „Er schreibt jetzt | |
| einen Roman.“ | |
| ## Verkaterte Laune | |
| „Ach.“ Houellebecq sieht verstohlen auf das hellrosa Gesicht des Mannes. | |
| Aber weil der gerade in der Nase bohrt, wendet er sich wieder Sartre zu. | |
| „Also worüber ich eigentlich mit Ihnen …“ – „Wenn du jetzt wieder mit | |
| dieser Islamscheiße anfängst, hau ich dir aufs Maul“, antwortet Sartre, | |
| ohne die Stimme zu heben. „Haben Sie schlechte Laune?“ Houellebecq lächelt | |
| freundlich. „Verkatert bin ich. Und du nervst mich.“ | |
| „Sie verschließen die Augen vor der Wirklich…“ Weiter kommt Houellebecq | |
| nicht, Sartre hat ihm direkt eine Kopfnuss verpasst. Jetzt reibt er sich | |
| die Fingerknöchel und murmelt: „Verdammte Gicht“, während Houellebecq, me… | |
| verdattert als verletzt, ihn offenen Mundes anstarrt. | |
| „Ich werde dir jetzt mal was sagen, du Vogel“, sagt Sartre. „Dein Problem | |
| ist, dass du dich für nix, für gar nix interessierst! Guck dir doch deine | |
| Figuren an – wenn’s dir passt, sitzen die Jahre bloß da. Hier, Jed Martin | |
| aus ‚Karte und Gebiet‘ zum Beispiel, bei dem fragt man sich doch sofort: | |
| Hat der Mann überhaupt eine Verdauung? Scheißt der?“ | |
| Die Wirtin stellt zwei Schultheiss auf den Tisch; draußen hupt ein Pferd. | |
| „Sie haben schon recht“, antwortet Houellebecq, nachdenklich seine | |
| manikürten Hände betrachtend. „Meine Figuren interessieren mich nicht | |
| sonderlich; eigentlich interessiert mich ohnehin nicht viel.“ – „Na ja“, | |
| sagt Sartre, „du bist eben Nihilist. Du meinst deine Theorien nicht, du | |
| probierst sie bloß aus. Du bist halt nichts Besseres als ein gewiefter | |
| Papierverkäufer.“ | |
| Houellebecq kratzt sich am Kopf. „Sehen Sie, Sie werden schon wieder | |
| moralisch.“ Er nimmt sich eines der Biere. „Das ist langweilig, das taugt | |
| nicht zu Literatur; höchstens zu schlechter Literaturwissenschaft. Wie | |
| kommt es überhaupt, dass Sie kaum von sich sprechen?“ – „Ich interessiere | |
| mich immerhin für andere.“ – „Das muss tragisch für Sie sein“, antwor… | |
| Houellebecq, „dass nichtsdestotrotz Ihr einzig gelungenes Buch ‚Les mots‘ | |
| ausschließlich von Ihnen handelt!“ – „Ja, das ist scheiße. Das ist in d… | |
| Tat mein bestes Buch. Oder halt wenigstens das, in dem ich mich am | |
| wenigsten geirrt habe.“ | |
| Sie schweigen einen Moment; Houellebecq holt sein Zigarettenetui raus und | |
| bietet Sartre eine an. Dann zückt er sein Benzinfeuerzeug. „Kennen Sie die | |
| Geschichte von Cortés’ Pferd?“ Die kurze Pause, die Houellebecq jetzt | |
| macht, ist rhetorisch gemeint. „Als jener nach Mexiko kam, war sein Pferd | |
| von der Überquerung des Ozeans derart zermürbt, dass es für die geplante | |
| Dschungeldurchquerung nicht mehr taugte. Also ließ Cortés das Tier in einem | |
| Eingeborenendorf nahe der Küste. Die Indianer kannten solche Wesen nicht, | |
| und kaum waren die Spanier abgezogen, erkoren sie das Tier zu einem Gott. | |
| Sie gaben ihm nur das Beste zu essen, erlesene Speisen, sie verwöhnten es | |
| und beteten es an. Unglücklicherweise vertrug das Pferd die ganzen | |
| Südfrüchte nicht, es konnte sie nicht verdauen, es bekam fürchterliche | |
| Blähungen und ging jämmerlich zugrunde. Sie haben es begraben und statt | |
| seiner eine Pferdeskulptur aus Holz aufgestellt.“ | |
| Sartre nickt. „Soso, eine Allegorie. Du meinst, dieses Pferd ist die Kunst, | |
| oder vielleicht sind es auch die Künstler, die sich während der | |
| einsetzenden Industrialisierung vom Bürgertum mit Schwachsinn haben | |
| vollstopfen lassen, bis die Kunst durch die Kreativen abgelöst wurde; die | |
| Holzköpfe.“ | |
| Houellebecq zuckt mit den Schultern. „So weit habe ich gar nicht gedacht. | |
| Die Geschichte hat mir schlichtweg gefallen.“ – „Ganz so, wie dir der | |
| Islam-Topos gefallen hat, nehme ich an. Der Flirt mit der Rechten. Das gibt | |
| dem Schreiben Würze, nicht wahr? Da kann man sich gleichzeitig als Opfer | |
| fühlen, wegen der …“ Sartre wedelt mit den Armen „… luzide ersonnenen | |
| ‚Islamodiktatur‘, und auch als Täter, weil das halt die Hirngespinste der | |
| Rechten bedient. Das macht einen dann halt zum ‚kontroversen Autor‘. So ein | |
| Schwachsinn.“ | |
| „Es ist heute das erste Mal, dass ich als ein Baudelaire beschimpft werde.“ | |
| Houellebecq leert sein Glas und stellt es vorsichtig zurück auf den | |
| Fliesentisch. Dann erhebt er sich und legt zehn Euro auf den Tisch. | |
| „Das wird nicht reichen“, sagt Sartre. „Wie“, fragt Houellebecq, „fü… | |
| Bier?“ | |
| „Ich brauch noch ’nen Schnaps“, sagt Sartre. Dann zeigt er auf Queneau, d… | |
| manisch vor sich hin kritzelt. „Und der da auch.“ | |
| 11 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Frederic Valin | |
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