# taz.de -- Houellebecq im Norden: Unterwerfung in Variationen | |
> Michel Houellebecqs Roman über eine islamische Machtübernahme in | |
> Frankreich ist von vier norddeutschen Bühnen adaptiert worden. | |
Bild: Das Kreuz mit dem Islam: Edgar Selge arbeitet sich am Schauspielhaus Hamb… | |
BREMEN taz | François macht die Theater verrückt. Nachdem er die | |
Leserschaft von Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ gespalten hat. Aber | |
wofür taugt die Figur des Pariser Literaturwissenschaftlers auf den Bühnen | |
des Nordens? Denkt er doch in seiner Single-Behausung über die Konversion | |
zur Religion Mohammeds nach, während draußen vor den Türen eine | |
linkspolitische Angst vor Marie Le Pens Front National die Islamisierung | |
Frankreichs fördert. | |
Ist er also ein Antiheld, weil feige und opportunistisch – gar Repräsentant | |
einer rechts der politischen Mitte gefühlten Ohnmacht? Oder ist François | |
ein echter Held, da er den Bankrott der liberalen Kultur antizipiert hat | |
und eine grundsätzliche Wertediskussion nahelegt? Lässt er sich zum Symbol | |
einer Zeit stilisieren, in der sich die Aufklärung peu à peu unter die | |
Heizdecke der Religion verabschiedet? | |
Ist „Unterwerfung“ eine Vorlage für nationalistische Hysterien und | |
Überfremdungsfantasien, weil darin mal einer sagt, wohin das führt, wenn so | |
viele muslimische Flüchtlinge ins Land kommen – oder ist der Stoff gerade | |
deswegen eine prophetische Parodie, weil Houellebecq anhand seiner | |
Hauptfigur mit amüsiertem Ekel die letzten dekadenten Zuckungen des alten | |
Europas beschreibt? | |
Was allen Dramatisierungen im Norden gleich ist: Im unbedingten Willen, | |
nicht Applaus von der falschen Seite zu bekommen, wird François deutlicher | |
als im Buch als Buhmann karikiert. Am differenziertesten wird das Werk in | |
Bremerhaven und Hamburg ausgelotet. | |
## Persönlichkeitsspaltung in Bremerhaven | |
Für Regisseur Mark Zurmühle in Bremerhaven besteht das Ich des | |
Protagonisten aus drei guten alten Kumpels und einer Kumpeline. So kann der | |
Monolog des Ich-Erzählers als ständiger Disput unterschiedlicher | |
Persönlichkeitsaspekte gestaltet werden, die sich in putziger Schulmanier | |
auch mal fingerschnipsend zu Wort melden – und im Text erwähnte Figuren | |
gleich noch mitspielen. | |
Das geschieht auf der großen Drehscheibe der riesigen leeren | |
Stadttheaterbühne Bremerhavens unter einer gewaltigen | |
(Bewusstseins-)Glocke. In den Hintergrund hat Bühnenbildnerin Eleonore | |
Bircher ein Dinosaurierskelett gelegt. Wer hier unzeitgemäß ist und | |
aussterben soll? Die unpolitischen, sexistischen, einsamen Mannsmachtbilder | |
von heute – wie eben der misanthropische Lebemann François. | |
Er feiert larmoyant sein Desinteresse an allem, was nicht der privaten | |
Bedürfnisbefriedigung dient und erkennt schnell, dass sein Wunsch nach | |
einer „Kochtopffrau“, die sich nachts zur betörenden Dirne wandelt und | |
ansonsten als Partnerin auf gebildeter Augenhöhe zu fungieren hat, prima | |
zum Frauen- und Familienbild des Islam passt. Sein Chef praktiziert das | |
schon, hat eine 15-Jährige fürs Bett und eine Ältere für den Haushalt | |
geheiratet. | |
Viel spannender aber ist, wie pointiert die in die Vorlage gewobenen | |
Debatten angerissen werden – dank des vielstimmigen François: das | |
Nachdenken über die Idee Gott, warum sich Europa am Anspruch, „Gipfel der | |
Zivilisation“ zu sein, verhoben hat und daher der Gipfel des menschlichen | |
Glücks wieder gefeiert wird, eben die Unterwerfung, verstanden als Abgabe | |
aller Verantwortung für das eigene Leben in der totalen Hingabe – der Frau | |
an den Mann, des Geistes an den Glauben, des Menschen an Gott. | |
Auf dass wieder zusammenwachse, was zusammengehöre: Staat und Kirche. Auch | |
die Möglichkeit eines atheistischen Humanismus und die Philosophie des | |
Individualismus werden andiskutiert in diesem psychologisch fein | |
ausgearbeiteten, faszinierenden Diskurstheater. | |
Das alles streicht das Theater Bremen unter der Regie von Leonie Böhm. In | |
einer hippiebunten Zirkusveranstaltung wird der gelangweilte Mann zur | |
Witzfigur dressiert. Eine paillettenbesetzte Riesenvulva im | |
Geschenkschleifchen an den Schamlippen ist Lieblingsspielzeug von François, | |
der als großer Junge in Windeln auftritt. Gern bleibt er seines Lebens | |
überdrüssig, weil es viel zu anstrengend wäre, einen Neuanfang zu starten | |
„Ein bisschen Liebe“, ein bisschen „Lust zu vögeln“, das reiche doch s… | |
sagt er und hüpft auf den Schoß seiner Freundin – die ihm seinen | |
Lieblingsporno vorspielt. | |
Selbst wenn mal Politisches in den partyfidelen Veralberungsduktus rutscht, | |
umkreisen sich die Gesprächspartner wie Gockel und Henne. Es geht halt | |
immer nur um Sex. Selbst Zuschauer werden als Sexobjekte vorgeführt. Das | |
Ensemble kommentiert das Geschehen wiederholt mit Pophits und macht | |
überdeutlich, dass die Männerwelt von heute längst bereit ist für den | |
Islam. | |
So wittert auch der Windelwicht mit dem von Houellebecq behaupteten | |
Wahlerfolg der Muslimischen Bruderschaft die Chance, endlich | |
anstrengungslos zum dominanten Männchen in einem Harem gefügiger Frauen zu | |
mutieren – dann würde die Polygamie das Chaos modernen Paarbeziehungen | |
ablösen und Geschlechterkriege würden in klar patriarchalen Strukturen | |
zwangsbefriedet. Nur wird das Publikum von all dem kaum peinlich berührt, | |
da die eh schon übel banalisierte Show eines lächerlichen Mannes mit | |
lärmenden Performancemitteln von jeder Art gedanklicher Auseinandersetzung | |
ablenkt. | |
Das Gegenteil im Hamburger Schauspielhaus. Edgar Selge entwirft sein | |
furioses François-Solo mit kluger Ironie und fördert intellektuelle | |
Wachheit, indem er beim Fabulieren über den radikalen gesellschaftlichen | |
Wandel ständig wechselt zwischen Begeisterung, Beleidigtsein, spöttischem | |
Staunen und Empörung. | |
## Identifikationsfigur mit Entertainerqualitäten | |
Das Publikum bekommt nicht Thesen vorgesetzt, sondern wird von einer | |
Identifikationsfigur umgarnt, die Selge allein wegen seiner | |
Entertainerqualitäten ist. Er reißt die Leute mit in seine mal politisch | |
verwegen unkorrekten, mal angstlustgetriebenen, mal obdachlosen | |
Gedankenwelten. Bis Houellebecqs Kritik deutlich geworden ist, dass das | |
säkulare Europa an sich selbst, an der satten Lethargie und | |
selbstherrlichen Borniertheit der François-Menschen zugrunde geht. | |
Das Ergebnis ist in Stephan Kimmigs Arbeit am Deutschen Theater Berlin zu | |
sehen. Dort personifiziert François das malade Europa und liegt im Bett | |
eines Klinikzimmer-Bühnenbildes. Er stöhnt, ächzt, zittert und lässt im | |
Fiebertraum Stationen des Romans als Krankengeschichte Revue passieren, | |
wobei sich Arzt und Pflegepersonal zu Statisten der Erzählung verwandeln. | |
Das ist das Problem des Abends: Weniger das Hospital, eher die Psychiatrie | |
ist der Handlungsort. Houellebecqs satirisch ernste Beschreibung wird zur | |
Wahnfantasie abgewertet – unendlich perspektivfrei. | |
## Es geht noch öder: Oldenburg | |
Aber es geht noch öder. Oldenburg! Dort will Peter Hailer den Selge-Triumph | |
kopieren – ohne Selge, dafür inhaltlich sowie regiemeisterlich mit | |
Boulevardtheatermiefigkeit. Da steht also ein antriebs-, fast willenloser | |
Bildungsbürger in einem 1960er-Sperrmüllzimmer, das als Symbol des | |
Nachkriegsbiedermeierlebens im Bühnenboden versinkt, während beiläufig von | |
muselmännischen Rettern die Rede geht. | |
Aber nur ein Problem stellt Hailer ausgiebig vor: François’ Ekzeme an den | |
Füßen. Ansonsten artikuliert dieser Oberschlaffi die Textfassung verbissen | |
höflich als eine Art Impulsvortrag ohne Impuls, garniert mit grienendem | |
Dauerlächeln. Langweilig wird ein Langweiler vorgeführt – und | |
„Unterwerfung“ auf ein Referatstheater und Pflichterfüllung reduziert. Also | |
auf nach Hamburg. Auf nach Bremerhaven! | |
23 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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