# taz.de -- Michel Houellebecqs neuer Roman: Aufgespießte Ängste | |
> Der Autor hat nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ alle Lesungen | |
> abgesagt. Doch sind er und sein Roman tatsächlich islamophob? | |
Bild: Gegen den Strich: Schriftsteller Michel Houellebecq | |
In der Sackgasse. In der Falle. Blockiert. So könnte man den Titel „En | |
rade“ übersetzen, den Joris-Karl Huysmans zwei Jahre nach dem Roman „À | |
rebours“ („Gegen den Strich“) herausbrachte, seinem Hauptwerk der Dekaden… | |
In der Falle sitzt auch der dekadente Antiheld François im neuen Roman von | |
Houellebecq. | |
Aber in die Falle lockt der Autor auch seine Leser. Viele seiner | |
französischen wie deutschen Kritiker sind ihm jedenfalls schon auf den Leim | |
gegangen. Denn „Gegen den Strich“ – „À rebours“ – bürstet der Aut… | |
Plot, der völlig anders verläuft, als seine Fans nach Houellebecqs Ausfall | |
gegen den Islam als „dümmste Religion“ von ihm erwarten. | |
Sechs Jahre hat dieser Kretin François – Houellebecqs jetzige Hauptfigur – | |
über Huysmans an der alten Sorbonne promoviert (Paris IV) und dann 15 Jahre | |
an der Neuen Sorbonne (Paris III) über ihn gelehrt. Schon der Unterschied | |
zwischen den Lehrgebäuden der beiden Universitäten zeigt es: In Stein | |
gehauen ist die alte; aus Beton, der bröckelt, die neue – der Weg führt | |
klar bergab. | |
Der altersmüde François – er ist etwa Mitte vierzig – blickt auf sein Leb… | |
zurück. Er sieht nur seelisches Elend, Einsamkeit und Verfall. Selbst vom | |
Sex berichtet er in Vergangenheitsform, freilich im vertrauten | |
Houellebecq-Duktus: sachlich, unterkühlt, distanziert, sportlich: „Es fand | |
Geschlechtsverkehr statt (den ich mir gern als für beide Seiten | |
befriedigend vorstelle).“ | |
## Gelegentlich ausfallend | |
Nur gelegentlich wird der Autor ausfallend, beleidigend, auch im Sinne von | |
Huysmans, etwa wenn er François eine Ex treffen und beschreiben lässt: „Der | |
Hintern und die Brüste waren nur mehr dünne, schrumpelige, schlaff | |
herabhängende Hautlappen, sie war am Ende.“ | |
Manchmal gelingen Houellebecq auch Vergleiche, die man je nach Standpunkt | |
als witzig, poetisch oder als unverschämt auffassen kann: „Der Penis ging | |
von Mund zu Mund, die Zungen kreuzten sich, wie die Schwalben sich im | |
dunklen Südhimmel des Departement Seine-et-Marne kreuzen“, heißt es über | |
Oralverkehr auf YouPorn. | |
Aber das sind nur beiläufige Reminiszenzen, letzte Zacken aus der Krone. | |
Wie schon der letzte Houellebecq, „Karte und Gebiet“, spielt auch der neue, | |
„Unterwerfung“, in der nahen Zukunft. Aber der neue ist mit weniger | |
Science-Fiction garniert, politisch direkter und unkorrekter: Nach dem | |
Durchbruch einer Muslimbruderschaft bei den Wahlen von 2017 kommt es zu | |
bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Islamisten und den „Ureinwohnern | |
Europas“. | |
## In der Falle | |
Diese werden „Identitäre“ genannt, da sie auf der alten Homogenität des | |
französischen Volkes beharren und von der Angst vor der Islamisierung | |
leben. Dann springt der Roman zu den Präsidentschaftswahlen von 2022. | |
Houellebecqs Erzähler François flieht vor den Unruhen in Paris mit einem VW | |
Touareg. Die Autobahn ist leer. Er hat kein Benzin mehr. Er sitzt in der | |
Falle, wie Huysmans’ Hauptfigur in der Erzählung „En rade“. | |
Er übernachtet in einem Hotel der Region Quercy, im Südwesten des Landes, | |
speist vorzüglich, kommt nach Rocamadour, wo er vor der Madonna, dem | |
Sinnbild des katholischen Europa, niederkniet. (Nebenbei bemerkt: In einem | |
Felsen von Rocamadour steckt auch das Schwert, mit dem Roland den Vormarsch | |
der Araber aufgehalten haben soll.) | |
Der Huysmans-Spezialist François scheint den Verlockungen der „décadents“ | |
zu erliegen, die nach den satanischen Ausschweifungen ihrer Jugend zu Kreuz | |
gekrochen sind und dann im Schoß der Kirche oder der heiligen Nation | |
landeten. Wie Huysmans, wie Maurice Barrès, der geistige Vater des Front | |
National, der um 1900 die Grundlagen für die heutigen Franko-Identitären | |
legte. Eine „Bekehrung“ bietet sich also für François an, wie der Roman | |
ursprünglich heißen sollte. | |
## Muslimbruder gewinnt | |
Doch dann schlägt Houellebecq einen seiner berüchtigten Haken: Sozialisten | |
und gemäßigte Rechte unterstützen den Kandidaten der Muslimbrüder. Ben | |
Abbes, ein geschmeidiger Typ, gewinnt so in der Stichwahl die Abstimmung | |
gegen Marine Le Pen. Nach dem Wahlsieg der Islamisten ändert sich das | |
Straßenbild von Paris. Die Frauen tragen keine Röcke mehr, was François | |
bedauert. Ihm fehlen die knackigen Ärsche. Paris III wird in „Islamische | |
Sorbonne“ umbenannt, François entlassen. | |
Seine junge jüdische Geliebte wandert nach Israel aus, was er ebenfalls | |
bedauert; vielleicht hätte er sie ja doch noch geliebt. Kollege Steve darf | |
dagegen weiterunterrichten, über Rimbaud, denn der wäre ja zum Islam | |
konvertiert. Neumuslim Steve muss heiraten und von den Studentinnen lassen, | |
wird sich aber eine zweite Frau nehmen. Die Saudis bezahlen ihm ein | |
Supergehalt von 10.000 Euro sowie die Wohnung im teuersten Viertel von | |
Paris. | |
Houellebecq malt ein Horrorszenario von der Machtübernahme durch den | |
politischen Islam aus, das so schön rot leuchtet wie ein ihm vertrauter | |
Swingerclub, während zu Hause die Eheköchin mit dem warmen Essen wartet. | |
Selbst der entlassene François denkt jetzt an Heirat. Kommt aber zu dem | |
Schluss: Heiraten bringt nichts außer „Erektionsproblemen auf der einen | |
Seite, Scheidentrockenheit auf der anderen“. Da ist er wieder, der Tonfall, | |
von dem der Autor nicht lassen kann. Gnadenlos wie eine Guillotine fällt | |
der Satz. | |
Lieber als das Aufgebot zur Hochzeit bestellt François den Escortservice, | |
den die Muslimbrüder nicht verbieten, eine „Nadia Maghribia“. Zurück blei… | |
der bittere Geschmack der Einsamkeit. Der Huysmans-Dozent folgt den Spuren | |
seines Idols ins Kloster von Ligugé. Allein das Leben eines Laienbruders | |
wird ihm verleidet durch die nahe TGV-Linie und den Rauchmelder in der | |
Klosterzelle. (François hat sogar die Manie von Huysmans übernommen, die | |
Kippe zwischen Ring- und Mittelfinger zu klemmen.) | |
## Entscheidende Wendung | |
Schließlich setzt der Autor die entscheidende, unerwartete Volte ein. Sein | |
François macht eine selbst für Spezialisten der französischen Décadence | |
interessante Entdeckung. Huysmans rekonvertierte zum Katholizismus nicht | |
aus Glaubensgründen, sondern aus Bequemlichkeit. Als Oblate in der Zelle | |
von Ligugé konnte er in Ruhe seine Zigaretten rauchen, man reichte ihm das | |
beste Essen, er konnte ungestört seine Bücher lesen und sich dem Kult des | |
Schönen hingeben. | |
Solche Verlockungen kann heute kein Kloster mehr bieten. Nach einem | |
intensiven Gespräch mit dem neuen Direktor der Sorbonne – man trinkt dabei | |
den besten französischen Weißwein, einen Meursault – und dem Angebot eines | |
gut dotierten Huysmans-Lehrstuhls bekundet François seinen Wunsch, zum | |
Islam überzutreten. Dieser neue Direktor gehörte zuvor der Bewegung der | |
„identitären“ Franzosen an! Und nun predigt er in seiner Luxusvilla von der | |
Schöpfung Allahs, die vollkommen ist, die schön ist, der sich der Einzelne | |
zu unterwerfen hat. Von daher der Titel des Romans. | |
„Unterwerfung“ endet wie Huysmans Hauptwerk „Gegen den Strich“ im | |
Konditional. François würde gerne glauben, einen Ausweg aus der Sackgasse | |
finden, ein neues Leben beginnen. Aber sein Autor durchschaut die Mechanik | |
der Konversion. Sie ist nur ein Ersatz, eine neue Illusion und Verheißung. | |
Houellebecqs Kritik am Islam wird mit diesem Roman noch harscher, geradezu | |
perfide. Er lässt den Islam siegen und zeigt, welche Vorteile er einem | |
verkommenen Subjekt wie François verschafft: wine, women and whisky. | |
## Ein vergiftetes Geschenk | |
Damit überbietet Houellebecq Flaubert. Dessen kleinbürgerlicher | |
Provinzapotheker wird am Ende von „Madame Bovary“ in die Ehrenlegion | |
aufgenommen. Der Nihilist François aber wird an die Islamische Sorbonne | |
berufen. Ein vergiftetes Geschenk. Hämischer geht es nicht. Der Autor | |
grinst, zahnlos wie Voltaire, und reibt sich die Hände, während er friert. | |
Houellebecq ist kein rechter Schriftsteller geworden, wie ihn manche in | |
Libération und Le Monde etikettieren. Nein, überhaupt nicht. Denn er | |
schickt seine „identitären“ Ureinwohner Europas in die Fänge des Islam. | |
Diese Konvertiten bleiben in seiner Attacke erzfranzösische Wendehälse. | |
Der Roman ist auch nicht „unentschieden“, wie der Chefkritiker der | |
Süddeutschen meint. Houellebecq ist vielmehr „Gegen alle“, wie eine neue | |
Übersetzung von Huysmans „À rebours“ heißt. Und er ist dabei noch popul�… | |
und geschickter geworden. Er spricht das an, worüber aktuell alle reden | |
müssen, er trifft den Nerv der Zeit, der durch das Attentat gegen Charlie | |
Hebdo offenliegt, die Angst vor dem Islam. Aber er bedient nicht die | |
Ängste. Im Gegenteil. Er spießt sie auf. | |
12 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Ruthard Stäblein | |
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